Ende eines Urlaubs
In der Türkei ist ein Deutscher wegen angeblicher Präsidentenbeleidigung angeklagt
Berlin. Als kürzlich der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan Deutschland besuchte, da verbreitete Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) über den Kurzmitteilungsdienst Twitter eine frohe Kunde. Deutschland und die Türkei arbeiteten als Freunde und Verbündete »für Freiheit, Glück, Wohlstand und Frieden« – für 160 Millionen Menschen und »für ganz Europa«. Ein paar Wochen zuvor – Mitte August – hatte schon der Tourismusbeauftragte der Bundesregierung, Thomas Bareiß (ebenfalls CDU), den Deutschen die Türkei als Reiseziel anempfohlen. Er sehe »wirklich keinen Grund, nicht in die Türkei zu reisen und dort Urlaub zu machen«, so Bareiß.
Zeitgleich zu diesen Äußerungen war Mitte August in der Türkei der Hamburger Taxifahrer und deutsche Staatsbürger Ilhami A. verhaftet worden. Und nur wenige Tage später, in der Nacht vom 24. auf den 25. August, wurde der Braunschweiger Hüseyin M. von einer Antiterroreinheit aus dem Ferienhaus seiner Schwiegereltern südlich von Izmir geholt und festgenommen, wie eine Recherche des »Spiegel« aufdeckte. Offenbar war er zuvor denunziert worden. Am heutigen Donnerstag soll der Prozess gegen M., der ausschließlich deut- scher Staatsbürger ist, in der Türkei beginnen. Ihm wird vorgeworfen, vor Jahren auf Facebook unter anderem geschrieben zu haben, Erdoğan sei ein Diktator – und damit den Präsidenten beleidigt zu haben. Darauf stehen in der Türkei bis zu vier Jahre Haft.
Hüseyin M. bestreitet die Vorwürfe gegen ihn. Ob er bald in seine Heimat Braunschweig wird zurückkehren können, ist offen. Fest steht allerdings, dass »Freiheit« und »Glück« in der Türkei für viele Menschen unerreichbar bleiben. Und dass es gute Gründe dafür gibt, der Urlaubsreklame der deutschen Regierung zu misstrauen.
Neben Hüseyin M. sind derzeit sechs weitere Deutsche wegen politischer Aktivitäten in der Türkei inhaftiert. Die politischen Hintergründe, die ihnen vorgeworfen werden, könnten nicht unterschiedlicher sein. Seit dem gescheiterten Putschversuch im Juli 2016 sind in der Türkei etwa zwei Dutzend Deutsche aus politischen Gründen festgenommen worden. Viele sind inzwischen wieder freigekommen. Seit 2016 kam es jedoch auch immer wieder zu neuen Verhaftungen. Auf Anfrage bestätigte das Auswärtige Amt, Kenntnis über fünf Fälle zu haben. Medienberichten zufolge dürften aber insgesamt noch sieben Deutsche aus politischen Gründen in der Türkei inhaftiert sein.
Unter ihnen ist der 32-jährige Adil Demirci, der am 13. April in Istanbul verhaftet worden war und seitdem in Untersuchungshaft sitzt. Ihm wird vorgeworfen, Mitglied in der MLKP (Marxistisch-Leninistischen Kommunistischen Partei) zu sein, die in der Türkei als Terrororganisation gilt. Der Sozialarbeiter aus Köln schrieb gele- gentlich für die linke Nachrichtenagentur Etha, für die auch die Journalistin Meşale Tolu tätig war. Demirci besitzt die doppelte Staatsbürgerschaft und war laut Medienberichten zum Zeitpunkt der Verhaftung für einen Familienbesuch mit seiner krebskranken Mutter in der Türkei. Der Prozess gegen Demirci soll am 20. November, gut sieben Monate nach seiner Verhaftung, beginnen.
Mit Dennis E., Ilhami A. und Hozan Cane sitzen auch drei Deutsche mit kurdischen Wurzeln in der Türkei in Untersuchungshaft:
Dem 55-jährigen Familienvater Dennis E. aus Hamburg-Harburg wird vorgeworfen, über soziale Medien Propaganda für die kurdische Arbeiter*innenpartei PKK verbreitet zu haben, die von der Türkei und der EU als Terrororganisation eingestuft wird. E. selbst bestreitet die Vorwürfe, er sei Mitglied der SPD und kein PKK-Anhänger. E., der 1963 in der Türkei geboren wurde, aber nur die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, hatte sich für einen Familienurlaub im Süden des Landes aufgehalten, als er Ende Juli im südtürkischen Hatay verhaftet worden war. Mitte August wurde im osttürkischen Elazığ der 46-jährige Taxifahrer Ilhami A., der seit 1992 in Hamburg lebt, verhaftet. Laut Medienberichten besuchte er dort seine Mutter. Ihm wird vorgeworfen, über die Social-Media-Plattform Facebook Propaganda für die PKK verbreitet zu haben. Bereits einen Monat nach seiner Verhaftung wurde A. in Elazığ zu drei Jahren und eineinhalb Monaten Haft verurteilt. Da sein Anwalt Berufung eingelegt hat, muss der 46-Jährige die Strafe zunächst nicht antreten. Er darf aber nicht aus der Türkei ausreisen.
Auch die deutsch-kurdische Sängerin Hozan Cane befindet sich seit dem 24. Juni wegen angeblicher Terrorpropaganda in Untersuchungshaft. Die 47-jährige Saide İnaç, wie die Sängerin mit bürgerlichem Namen heißt, hatte in der nordwesttürkischen Stadt Edirne an einer Wahlkampftour der oppositionellen Linkspartei HDP teilgenommen. Die türkische Justiz wirft İnaç »Terrorpropaganda« und die Mitgliedschaft in der verbotenen PKK vor. Medienberichten zufolge beziehen sich die Vorwürfe auf einen Film, in dem die Sängerin mit kurdischen Kämpfern posiert habe.
Ein ganz anderer politischer Hintergrund wird dem 73-jährigen Enver Altaylı vorgeworfen: Er soll die Gülen-Bewegung, die in der Türkei für den gescheiterten Putschversuch im Sommer 2016 verantwortlich gemacht und als Terrororganisation eingestuft wird, unterstützt haben. Altaylı, der lange im hessischen Oberreifenberg im Taunus gelebt hatte, dann aber eine Ferienanlage in Antalya betrieb, war dort bereits am 20. August 2017 verhaftet worden. Seitdem sitzt er ohne Anklageschrift in Einzelhaft im Ankaraer Sincan Gefängnis. Seiner Familie zufolge gehe es ihm gesundheitlich schlecht, er leide an einer Herz- und Stoffwechselkrankheit und müsse eigentlich stationär im Krankenhaus behandelt werden. In jungen Jahren Mitglied bei den rechtsextremistischen Grauen Wölfen, arbeitete Altaylı in den 60er und 70er Jahren für den türkischen Geheimdienst MIT. Der habe ihn 1968 zu Forschungszwecken nach Deutschland entsandt. In den 80er Jahren vertrat Altaylı dann die ultranationalistische Partei der Grauen Wölfe MHP in der Bundesrepublik, und wurde einer ihrer führenden Funktionäre. Zuletzt war er als Schriftsteller tätig.
Eine Mitgliedschaft in der verbotenen Gülen-Bewegung wird auch Nejat U. vorgeworfen. Er war bereits im Juli 2017 als erster deutscher Staatsbürger seit dem Putschversuch 2016 in der westanatolischen Stadt Afyonkarahisar zu neun Jahren und neun Monaten Haft verurteilt worden. Der 55-Jährige, der einst zum Studium nach Deutschland gekommen, danach viele Jahre in Aachen gelebt und 2000 in die Türkei zurückgekehrt war, habe ein Konto bei einer Gülen-nahen Bank besessen, seine Kinder hätten eine Gülen-nahe Schule besucht. Die Terrorismusvorwürfe der Staatsanwaltschaft wies U. laut Medienberichten entschieden zurück. Vor Gericht habe er außerdem darauf hingewiesen, dass er ausschließlich die deutsche Staatsbürgerschaft besitze.
Die wohl rätselhafteste Festnahme ist die des 29-jährigen Patrick K. aus Gießen, der sich seit dem 14. März in Untersuchungshaft befindet. Berich- ten der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu zufolge ist der Gießener im Bezirk Silopi in der südosttürkischen Provinz Sirnak verhaftet worden. Ihm wird die Mitgliedschaft in der syrisch-kurdischen Volksverteidigungseinheit YPG vorgeworfen, die in der Türkei als Terrororganisation gilt, sowie das »Betreten einer militärischen Sperrzone« an der türkisch-syrischen Grenze. Auf beides zusammen stehen bis zu 20 Jahre Haft. Laut Angaben seiner Familie war K. zum Wandern in der Türkei. Dem »Gießener Anzeiger« zufolge sei am 14. März in sein Hotelzimmer in der türkischsyrischen Grenzstadt Nusaybin eingebrochen worden. Er habe deshalb zurück nach Deutschland gewollt und sich zu Fuß zum deutschen Konsulat begeben, als er in der Ferne Schüsse gehört habe. Wenig später habe ihn das türkische Militär aufgegriffen und festgenommen. Nach dem Prozessauftakt am 5. Oktober sitzt K. weiterhin in Untersuchungshaft. Der Richter habe entschieden, die Anschuldigungen seien zu schwer für eine Freilassung, so sein Anwalt Hüseyin Bilgi. Der nächste Gerichtstermin ist laut Bilgi für den 26. Oktober angesetzt.