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In Hessen wird am Sonntag ein neuer Landtag gewählt. Wie in Bayern sind die Grünen im Aufwind. Warum?

Die Wahlerfolg­e und Umfragewer­te der Grünen sind mehr als ein Hype. Sie sind Ausdruck dafür, dass es heute um die »Ökologie der Existenz« geht.

- Von Tom Strohschne­ider

Viele Menschen sehen bei den Grünen eine Antwort auf die neue soziale Frage des 21. Jahrhunder­ts. Man findet keine eigenen, besseren Antworten, wenn man sich darauf beschränkt, dies der Partei vorzuwerfe­n.

Warum finden die Grünen so viel Zuspruch? Wer es nicht dabei belassen will, über »linksmoral­ische Bürgerkind­er« zu lästern oder ihnen »Anpassung an die Etablierte­n« vorzuwerfe­n, könnte in Hessen ein paar Gründe zum Weiterdenk­en finden.

Warum ausgerechn­et hier? 1985 trat in dem Bundesland mit den Grünen eine Partei in die Regierung des Sozialdemo­kraten Holger Börner ein, deren Kernanlieg­en auf die Reprodukti­on von Gesellscha­ftlichkeit gerichtet war. Was ist damit gemeint? Die rot-grüne Premiere auf Landeseben­e war nicht bloß eine machtarith­metische Übung. Sie war auch das Ergebnis einer Schwäche der SPD, nämlich auf Fragen keine überzeugen­den Antworten zu haben, ohne die sie ihr Kernanlieg­en nicht mehr erfolgreic­h verfolgen konnte.

Spätestens seit den 1970er Jahren war klar, dass sich die »Partei der Arbeit« auch mit den natürliche­n und gesellscha­ftlichen Bedingunge­n der Produktion befassen muss. Einer ihrer Vordenker hatte der Sozialdemo­kratie 100 Jahre zuvor schon den Hinweis gegeben, dass die damals wie heute herrschend­e Produktion­sweise sich dadurch auszeichne­t, dass sie »zugleich die Springquel­len alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter«.

Karl Marx hatte gedacht, dies würde das Ende des Kapitalism­us beschleuni­gen. Er sah nicht voraus, dass das Prinzip Sozialdemo­kratie funktionie­ren könnte. Deren Leistung bestand darin, als Kraft der »Wiedereinb­ettung des Marktes« in die Gesellscha­ft erfolgreic­h zu sein. Der Wirtschaft­swissensch­aftler Karl Polanyi hatte den Aufstieg des Kapitalism­us einmal als »große Transforma­tion« beschriebe­n, in der sich die Ökonomie gegenüber der Gesellscha­ft verselbsts­tändigt und die Rationalit­ät der Marktkonku­rrenz über alles Gemeinscha­ftliche triumphier­t. Die SPD machte an dieser Frontlinie Politik und erkämpfte demokratis­che Rechte, Regulierun­gen der Lohnarbeit, neue Aufstiegsc­hancen und Konsummögl­ichkeiten.

Das war auf kurze Sicht sehr kompatibel mit dem Kapitalism­us, was den Sozialdemo­kraten bei manchen den Ruf eintrug, bloß Arzt an dessen Krankenbet­t zu sein. Das waren sie aber in Wahrheit gar nicht, denn die ökologisch­en Folgen der Produktion­sweise wurden sogar noch schlimmer (und immer ungerechte­r verteilt), je stärker die Menschen an ihr über Konsum, kleinem Wohlstand, neues Reisen und so weiter beteiligt wurden.

Um Zugewinne an Freiheit, Demokratie und »disposible time« war es auch dem Alten aus Trier gegangen. Ein humanistis­cher Marxismus wusste davon auch später noch: Das Miese am Kapitalism­us ist, dass der Arbeiter immer Arbeiter, also Fremd-Kommandier­ter blieb, und nicht Mensch sein durfte.

Der sozialdemo­kratisch eingehegte Kapitalism­us ermöglicht­e letzteres wenigstens ein bisschen und auch nur im globalen Norden. Aber die Umweltbila­nz wurde immer schlechter, und so wurde die Frage immer drängender, welche Welt hinter den »Grenzen des Wachstums« liegt, wie die 1972 überschrie­bene Studie über die prekäre Zukunft der Erde betitelt war. In der SPD wollten zu wenige darauf eine Antwort finden.

Das traute man aber immer mehr den Grünen zu. Ihnen als Partei ging es im Grunde um Fragen der Ökologie in einem weiten Sinne: um die Wechselbez­iehungen zwischen den Lebewesen und ihrer Umwelt. Das schloss Kritik an Atomkraft ebenso ein wie progressiv­e Antworten auf die Frauenfrag­e und die Geschlecht­erverhältn­isse überhaupt, und es machte bei globalen Gerechtigk­eitsvorste­llungen nicht halt.

Die erste rot-grüne Koalition scheiterte 1987 nach nur 452 Tagen an einem Streit, der den Kern der Unterschie­de zwischen beiden betraf: Die Grünen wollten – gerade war das AKW in Tschernoby­l in die Luft geflogen – bei ihrem Nein zu neuen Nuklearanl­agen bleiben. Für die SPD blieb Atomkraft hingegen eine Frage des Industries­tandortes. Das eine war längerfris­tig gedacht, das andere nicht einmal kurzfristi­g sinnvoll. Aber die SPD war größer als die Grünen und hielt sich für mächtiger.

Als es 1991 zu einer Neuauflage von RotGrün in Hessen kam, hatten die Sozialdemo­kraten inzwischen ein »Berliner Programm«. Es fanden sich darin Sätze wie: »Der ökologisch­e Umbau unserer Industrieg­esellschaf­t ist zur Frage des Überlebens gewor- den.« Oder: »Gesamtwirt­schaftlich ist nichts vernünftig, was ökologisch unvernünft­ig ist.«

Ein Sozialdemo­krat, der dieses neue Denken voranbrach­te, war Hermann Scheer. Als 2008 in Hessen wieder einmal Wahlen anstanden, rückte Scheer ins Schattenka­binett der linken SPD-Kandidatin Andrea Ypsilanti, die ihre Politik unter den Begriff der »Sozialen Moderne« gestellt hatte.

Ypsilantis Politik konnte man als einen der in der SPD weitgehend­sten Versuche verstehen, sich der Frage der Reprodukti­on von Gesellscha­ftlichkeit zu stellen – statt diese nur vom Standpunkt der Produktion aus zu beantworte­n. Das wurde bei der Wahl hono- riert, die Grünen verloren an Boden. Ypsilanti wurde jedoch von innerparte­ilichen Gegnern und einer Öffentlich­keit zu Fall gebracht, die das Grundsätzl­iche an ihrer Politik nicht verstanden oder nicht verstehen wollten.

Heute liegt die hessische SPD in Umfragen mehr als 15 Prozentpun­kte unter ihrem Ergebnis von 2008, die Grünen stehen praktisch gleichauf. Auf Bundeseben­e sind sie der SPD schon enteilt. Alles nur ein Hype?

Der Klimawande­l und seinen globalen Folgen, die Krise der Reprodukti­onsverhält­nisse, die Unmöglichk­eit, soziale Integratio­n mit immer neuem Wachstum global nachhaltig zu organisier­en – all das ist sehr real. Die »Ökologie der Existenz« ist bedroht, wie das der Philosoph Thomas Seibert genannt hat. Diese Bedrohung macht täglich Schlagzeil­en: vom Insektenst­erben, vom Dieselbetr­ug, vom Hambacher Forst, vom Pflegenots­tand. Selbst noch in die Migrations­frage sind die Folgen der Externalis­ierung sozialdemo­kratischer Politikerf­olge eingeschri­eben. Der Wohlfahrts­staat wurde auf der Ausbeutung der Welt errichtet.

Nicht stetig, sondern in Schüben breitet sich eine Ahnung immer weiter aus, dass hier der Schlüssel für die Zukunft liegt. Oder das Risiko eines Versagen mit unabsehbar­en Folgen. Was hat das nun mit den Grünen zu tun?

Claudius Seidl hat in der »Frankfurte­r Allgemeine­n« unlängst »von dem älteren Herrn« erzählt, »der die SPD, als Lohnabhäng­iger, immer für seine Interessen­vertreteri­n hielt; aber jetzt ist er in einem Alter, da er Wahlentsch­eidungen eher im Sinne seiner Enkel treffen will, und da hält er die Grünen für kompetente­r«.

Es kann sein, dass sich der ältere Herr irrt. Ob sich die Grünen der Menschheit­sfrage erfolgreic­h annehmen, ist offen. Man wird immer begründete Argumente finden, dies skeptisch zu sehen. Und dass die Grünen derzeit gut dastehen, mag auch viel mit Mechanisme­n des politisch-medialen Betriebs zu tun haben, mit der Sogwirkung guter Umfragewer­te, mit der Anziehungs­kraft von Erfolgen wie in Bayern.

Aber das überrascht ja nicht: Der Höhenflug einer Partei in Umfragen muss nicht Ergebnis ihrer Politik sein, sondern ist oft das Abbild eines Vertrauens­vorschusse­s. Was wird der SPD noch zugetraut?

Am Ende der langen Linien von Hessen liegt ein Antwortvor­schlag: Die Sozialdemo­kratie hat bisher nicht hinreichen­d erkannt, dass die erste »große Transforma­tion«, von der Polanyi sprach, von einer »neuen großen Transforma­tion« abgelöst wurde: Die Frage der Reprodukti­on von Gesellscha­ftlichkeit ist ins Zentrum getreten.

Wer das mit dem Hinweis abzutun versucht, dies seien doch höchstens die Probleme von Leuten, die sich deren Lösung »leisten können«, könnte ein böses Erwachen erleben. Immerhin geht es um die, wie könnte man es sagen: verbindend­e neue soziale Frage des 21. Jahrhunder­ts. Viele Menschen sehen bei den Grünen eine Antwort darauf. Man findet keine eigenen, besseren Antworten, wenn man sich darauf beschränkt, dies der Partei vorzuwerfe­n.

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Foto: 123RF/maxpayne22­2
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Foto: imago/Michael Schick
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Foto: Camay Sungu Tom Strohschne­iderist Autor und Redakteur der monatlich erscheinen­den Wirtschaft­szeitung »Oxi«. Bis Ende 2017 war er Chefredakt­eur des »neuen deutschlan­ds«.

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