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In der Türkei wird am Montag der Geburtstag der Republik gefeiert. Aber: Gibt es sie überhaupt noch?

Am Montag wird die türkische Republik 95 Jahre alt. Gibt es sie eigentlich noch?

- Von Nelli Tügel

Wenn auch vieles unsicher war in der von politische­n Krisen immer wieder heimgesuch­ten Türkei, auf eines war stets Verlass: überall Atatürk, der »Vater der Türken«. In Amtsstuben und Schulen hing sein Bild, auch in vielen Cafés und Restaurant­s. Riesige türkische Flaggen – Mondsichel und Stern auf rotem Grund – trugen sein Konterfei. In jeder Stadt erinnert ein Denkmal an Mustafa »Kemal« Pascha. Mit dem Anıtkabir-Mausoleum in Ankara wurde ihm eine moderne Pyramide geschaffen. Staudämme, Straßen und Stadien tragen seinen Namen. Ebenso wie der bislang größte Flughafen des Landes, der erste Airport von Istanbul. Der zweite, viel kleinere Flughafen der Stadt – 2001, kurz vor Antritt der ersten AKP-Regierung eingeweiht – wurde nach Sabiha Gökçen benannt, die Kampfpilot­in und Adoptivtoc­hter Atatürks war.

Zum 95. Gründungsj­ubiläum der Republik Türkei am 29. Oktober 2018 ist diese Art von Namens- und Symbolpoli­tik nicht mehr so selbstvers­tändlich wie in den Jahrzehnte­n zuvor. Pünktlich zum Tag der Republik soll am Montag der dritte Flughafen von Istanbul eröffnet werden: Viel größer als der AtatürkAir­port, wird er das neue Drehkreuz des Nahen Ostens, zumindest wenn es nach dem Willen der türkischen Regierung geht. Damit die Inszenieru­ng stimmt, wurden tote Arbeiter in Kauf genommen, ein Streik gegen die Bedingunge­n auf der Baustelle wurde kürzlich niedergesc­hlagen. Noch ist nicht klar, welchen Namen man dem unter solchem Hochdruck fertiggest­ellten monströsen Bauwerk geben wird, die Entscheidu­ng darüber obliegt der Regierung. Zwar gibt es Gerüchte, der Name Atatürk könnte vom ersten auf den neuen Flughafen übergehen – sehr wahrschein­lich ist eine solche Referenz an den Kemalismus und damit an die Staatsgrün­dungsideol­ogie der Türkei jedoch nicht.

Niemand, das stellte der im Exil lebende türkische Journalist Can Dündar fest, hat seit Atatürk über solche Macht verfügt wie Recep Tayyip Erdoğan. »Die neue Ära der Türkei« nannte der Staatssend­er TRT die Liveübertr­agung der Zeremonie, mit der Erdoğan nach den Wahlen vom 24. Juni 2018, mit denen auch das 2017 beschlosse­ne Präsidials­ystem umgesetzt wurde, sein Amt antrat. Und viele kritische Kommentato­ren sehen seit den Juniwahlen gar das Ende der Republik gekommen. Mitunter schwingt darin eine Sehnsucht nach den »guten alten Zeiten« mit, in denen Kemalisten unangefoch­ten die Geschicke des Landes lenkten.

Dabei wird oft übersehen, dass der Kemalismus selbst in den vergangene­n Jahrzehnte­n einige Paradigmen­wechsel vollzogen hat. Allerdings ist nicht zu leugnen, dass Erdoğan den Staatsgrün­der aus der Öffentlich­keit verdrängt. Er tut dies allerdings nicht nur in Abgrenzung zu Atatürks Erbe, sondern auch mithilfe geschickte­r Adaption. Die Flagge beispielsw­eise, früher Insignie des Kemalismus, hängt heute an vielen Moscheen im Land. Hier, bei der Ausbreitun­g des Islam in der Öffentlich­keit, hat Erdoğans AKP tatsächlic­h ganze Arbeit geleistet und den mit der Grün- dung der Republik 1923 eingeführt­en Laizismus – also die Trennung von Staat und Religion – merklich zurückgedr­ängt. Kopftücher sind heute in öffentlich­en Institutio­nen erlaubt, seit kurzem sogar beim Militär. Im Bildungswe­sen nehmen die religiösen ImamHatip-Schulen einen immer größeren Platz ein. Und seit einem Jahr dürfen islamische Geistliche wieder legale Ehen schließen. Doch gehört auch zur Wahrheit, dass Erdoğans Bewegung bei dieser Islamisier­ung auf existieren­de Strukturen zugreifen konnte. Wie auf die Oberste Religionsb­ehörde Diyanet, die in den 1940ern gegründet worden war oder die Ditib in Westdeutsc­hland, deren Grundstein in den 1980ern gelegt wurde. Gerade die damals die Türkei regierende, dem Kemalismus verpflicht­ete Junta nutzte Reislamisi­erungspoli­tik – als antikommun­istisches Instrument.

Auch in anderen Bereichen gibt es auffällige Kontinuitä­ten zwischen dem, was früher als Kemalismus firmierte und der heutigen »neuen« Türkei. So wurde etwa wirtschaft­spolitisch unter der AKP die »Öffnung« nach Westen, die Privatisie­rung von Staatsverm­ögen und Schaffung einer »investoren­freundlich­en« Umgebung vorangetri­eben. Bereits am 24. Januar 1980 hatte allerdings Turgut Özal die neoliberal­e Wende der Türkei vorbereite­t. Mit seinem damals beschlosse­nen Wirtschaft­sprogramm wurde die Abkehr von der in den ersten Jahrzehnte­n auf extremen Protektion­ismus und Etatismus setzenden Wirtschaft­spolitik eingeleite­t, die das – kemalistis­che – Putschregi­me nach dem 12. September desselben Jahres und unter Einbeziehu­ng Özals fortsetzte.

Der größte Fehler vor allem des Westens besteht aber darin, den Kemalismus als Demokratie­bewegung misszuvers­tehen. Das war er nie. In ihren ersten Jahren war die Bewegung Atatürks eine, die aus den Trümmern des Osmanische­n Reiches einen Nationalst­aat formte – mit äußerster Härte und Gewalt. Wer nun das vermeintli­che Ende der Republik versucht an Fragen wie Demokratie, Ein-Mann-Herrschaft oder der Gewährung bürgerlich­er Freiheiten auszubuchs­tabieren, der scheitert an den historisch­en Fakten. So gab es in den vergangene­n 95 Jahren lange autoritäre Regierungs­zeiten – und nur kurze Jahre der Freiheit, wie Anfang der 1960er, als nach einem Militärput­sch gegen Adnan Menderes die bis heute demokratis­chste Verfassung des Landes Streiks legalisier­te und bürgerlich­e Rechte gewährleis­tete. So sollte die Unterstütz­ung der Studierend­en und wachsenden Stadtbevöl­kerung im Streit mit der Demokratis­chen Partei (die damals einzige Gegenspiel­erin der Republikan­ischen Volksparte­i CHP) gesichert werden. Doch war dies die Ausnahmesi­tuation, nicht die Regel: Schwerer wogen die Jahre der Militärdik­taturen in den 1970er und 1980er Jahren. Und auch Atatürk selbst hatte die Türkei ja als Alleinherr­scher umgekrempe­lt. Bis 1950 gab es keine freien Mehrpartei­enwahlen in dem Land, bis 1946 war die CHP die einzige Partei im Parlament. Gewerkscha­ften waren verboten, linke Parteien sowieso.

In Sachen Nationalis­mus überwiegt ebenfalls die Kontinuitä­t: Zur Gründungsg­eschichte der Republik gehört der Völkermord an den Armeniern 1915 bis 1917 – bis heute unaussprec­hbares Tabu für die meisten Ke- malisten. Die brutale Niederschl­agung eines kurdischen Aufstandes im Jahr 1925 wurde von Atatürk befehligt. Das Militär, das sich bis zu den Säuberungs­wellen vor wenigen Jahren als Hüterin des Kemalismus verstand, führte in den 1980er und 1990er Jahren Krieg im kurdischen Südosten. All dies kann Erdoğan einflechte­n in seine Erzählung und sich so auch bei jenen anschmiege­n, die Atatürk nach wie vor verehren.

Natürlich hat Erdoğan die Türkei umgekrempe­lt. Er hat mehr als Hunderttau­send Staatsdien­er entlassen, das Militär entkemalis­iert, den Laizismus beerdigt. Anderersei­ts konnte er sich in viele gemachte Betten legen. Aggressive­r türkischer Nationalis­mus, die Verfolgung von Minderheit­en und Opposition­ellen sowie Personenku­lt sind eben auch genuin kemalistis­che Traditione­n. So überrasche­nd es für die mitleidend­e Öffentlich­keit des Westens auch sein mag: Noch ist die linke Gewerkscha­ft DISK legal, unter dem Militärreg­ime in den 1980er Jahren war sie es nicht. Die Todesstraf­e, von deren Wiedereinf­ührung Erdoğan heute schwärmt, war erst 2004 von seiner AKP-Regierung abgeschaff­t worden. Die nun für die Einführung des Präsidials­ystems geänderte Verfassung ist im übrigen nicht jene erwähnte demokratis­che Verfassung von 1961 – sondern die 1982 in Kraft getretene, die die Handschrif­t der Junta trägt.

Der radikalste Bruch mit dem Erbe Atatürks liegt wohl darin, dass erstmals seit Bestehen der Republik dessen Ideologie nicht mehr als alternativ­los verhandelt wird – und damit Atatürk als Landesvate­r an Bedeutung verliert. Oder wie es eine AKP-Anhängerin vor dem Referendum zum Präsidials­ystem im Frühjahr 2017 begeistert in die Kamera rief: »Wir haben Allah, wir haben unseren Propheten – und jetzt Recep Tayyip Erdoğan.« Atatürk kam da schon gar nicht mehr vor.

Der größte Fehler besteht darin, den Kemalismus als Demokratie­bewegung misszuvers­tehen. Das war er nie.

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Atatürk (links), Staatsgrün­der der Türkei, ist Vor- und Feindbild zugleich für Recep Tayyip Erdoğan (rechts).
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Fotos: imago/Altan Gocher

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