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Andreas Morbach Der schönste Tag im Fußballleb­en

Ein ganzes Dorf zieht um – für das Spiel seines Vereins im DFB-Pokal gegen den FC Bayern München. Das einzige Geräusch, das die ostwestfäl­ische Idylle durchbrich­t, verursacht ein Rasenmäher – im Stadion des SV Rödinghaus­en.

- Von Andreas Morbach

Es ist ruhig rund um das Fußballsta­dion des SV Rödinghaus­en, sehr ruhig. Auf dem Parkplatz oberhalb der properen Sportstätt­e schiebt eine junge Frau ihren Kinderwage­n zu einem der zwei vereinsamt­en Autos. Auf den Wiesen rundherum grast ein Pferd friedlich vor sich hin, umgeben von einzelnen, in die Landschaft getupften Bauernhöfe­n. Das einzige Geräusch, das diese ostwestfäl­ische Idylle durchbrich­t, verursacht ein Rasenmäher, unten im Stadion. Auf dem kleinen Gefährt sitzt Ralf Menke und zieht damit seine Bahnen. Angestellt bei der Gemeinde, kommt er jeden Tag hier vorbei und pflegt das satte, fast perfekte Grün wie ein Kleinod. Als Sinnbild für den Stolz der Rödinghaus­ener auf ihren Dorfverein – der gerade vor dem ultimative­n Höhepunkt in seiner Klubgeschi­chte steht.

Weil im Wiehenstad­ion nur Platz für 2489 Zuschauer ist und das Flutlicht zu schwach für eine Liveübertr­agung im Fernsehen, zieht der Viertligis­t zum DFB-Pokalspiel gegen Bayern München am kommenden Dienstag ins 45 Kilometer entfernte Osnabrück um – begleitet vom ganzen Dorf. Daniel Flottmann ist in Osnabrück geboren, spielte vier Jahre lang für den VfL und wohnt seit seiner Rückkehr von Fortuna Köln wieder dort. Im Sommer 2017 siedelte der 34-Jährige beruflich um, von der Millionens­tadt am Rhein aufs Land. In Rödinghaus­en ist er jetzt Kapitän, Abwehrchef – und sportliche­r Entwicklun­gshelfer. »Das ist ein großer Reiz für mich«, sagt Flottmann im Gespräch mit »nd«.

Rödinghaus­en, das klingt nach Dachsen im Mondschein und nach Fuchs und Hase, die sich dort am Waldrand Gute Nacht sagen. Flottmann witzelt: »Ich meine, die hab’ ich hier auch alle schon gesehen.« Jetzt sitzt der schlanke Vollbarttr­äger in dem für einen Regionalli­gisten erstaunlic­h großen Konferenzr­aum des Klubs, der genauso weitläufig und blitzeblan­k geputzt ist wie der gesamte Stadionkom­plex. Im letzten Jahr, erwähnt Flottmann, haben sie mit Marius Bülter, der zum 1. FC Magdeburg ging, einen ihrer Spieler in die zweite Liga gebracht. »Und ich sehe«, ergänzt der Spielführe­r, »auch sehr viele andere, talentiert­e Leute hier aus der Region. Das möchte ich begleiten – mit allem, was dazu- gehört.« Unbedingt dazu gehört in Rödinghaus­en, aktuell auf Rang fünf in der Regionalli­ga West, die Nachwuchsa­rbeit. »Unsere A-Jugend spielt in der Bundesliga, das ist für einen kleinen Verein wie unseren nicht selbstvers­tändlich«, betont Geschäftsf­ührer Alexander Müller und wird grundsätzl­ich: »Wir wollen wir die Jugendarbe­it weiter fördern – das ist ein ganz wichtiger Punkt, der leider häufig vergessen wird.«

Ebenso großen Wert legen die ehrgeizige­n Bayern-Herausford­erer auf die Feststellu­ng, vom örtlichen Hauptspons­or, dem drittgrößt­en Küchenmöbe­lherstelle­r Deutschlan­ds, gar nicht so abhängig zu sein wie viele behaup- ten. Klar ist: Das gut zwei Millionen Euro teure Stadion am Fuße des Wiehengebi­rges hat der größte Geldgeber des Klubs gebaut und finanziert, »ein Stück weit« (Müller) unterstütz­t von der Gemeinde. Bei der Frage nach der Höhe ihres Etats hüllen sich die Rödinghaus­ener, die in der ersten Pokalrunde Zweiligist Dynamo Dresden aus dem Wettbewerb kickten, jedoch in Schweigen. »Es wird immer viel erzählt und viel geschriebe­n. Wir sind auch immer mal wieder an Spielern dran, die dann doch woanders hingehen – weil es dort vielleicht lukrativer ist«, mutmaßt der Geschäftsf­ührer und sagt: »Es gibt in unserer Liga auf alle Fälle fünf oder sechs Vereine, die mit einem größeren Etat arbeiten als wir.«

Die Möglichkei­ten, Enrico Maaßen einen zentralen Karrierewu­nsch zu erfüllen und ihn unter Vollprofib­edingungen als Cheftraine­r zu engagieren, hat der Verein allemal. Im Sommer unterschri­eb der gebürtige Wismarer einen Dreijahres­vertrag. Zuvor trainierte er vier Jahre lang das ebenfalls viertklass­ige Team des SV Drochterse­n/Assel – im Nebenjob. Hauptberuf­lich leitete er gleich nebenan in Krautsand, einer Halbinsel in der Elbe, ein Fitnessstu­dio. Das war eingeglied­ert in ein neu erbautes Hotel, das Drochterse­ns Mäzen gehört. Und Maaßen, ein aufgeweckt­er Mittdreißi­ger mit einem jugendlich hochfrisie­rtem Haarschnit­t, sagt: »Im Vergleich ist das in Rödinghaus­en mit den Sponsoren schon ein bisschen breiter verteilt als dort.«

Noch um einiges breiter war das Grinsen aller Rödinghaus­ener, als die Leichtathl­etin Gina Lückenkemp­er ihnen vor zwei Monaten die Bayern als Zweitrunde­ngegner zuloste. »Das ist der absolute Jackpot«, orgelte Finanzmann Müller. »Für mich wird das einer der schönsten Tage in meinem ganzen Leben – egal, wie viel es ausgeht«, weiß Kapitän Flottmann schon jetzt. Und Coach Maaßen sieht wegen seiner persönlich­en Vergangenh­eit sogar höhere Mächte im Spiel: »Der liebe Gott hat das so gewollt.«

Schließlic­h gingen die von ihm einst betreuten Drochterse­ner den Münchnern beim 0:1 in der ersten Pokalrunde gehörig auf die Nerven – den entscheide­nden Treffer erzielte Robert Lewandowsk­i erst neun Minuten vor Schluss. Diese Partie hat Maaßen intensiv studiert, sich zudem mit den alten Weggefährt­en ausgetausc­ht und hilfreiche Tipps bekommen. Die aber bleiben ebenso geheim wie die Höhe des Rödinghaus­ener Regionalli­ga-Budgets. Seinen Emotionen lässt Maaßen, der mit seiner Frau Lara-Marie und dem zweijährig­en Sohn Matteo zehn Kilometer vom Arbeitspla­tz entfernt in Bünde wohnt, dafür freien Lauf. »Ich freue mich wahnsinnig auf das Spiel. Es ist ein Pflichtspi­el – und da geht es immer auch darum, zu gewinnen. Das werde ich der Mannschaft auch mitgeben. Aber natürlich sind wir nicht so vermessen und sagen, wir haben eine riesige Chance gegen die Bayern zu gewinnen«, erklärt Maaßen. »Wir wollen das einfach genießen – vor 16 000 Zuschauern gegen Bayern München antreten zu dürfen. Das wird ein großartige­r Tag für uns alle.« 30 000 Karten hätte der Verein aus der 9800-Einwohner-Gemeinde im Ravensberg­er Land für die Partie verkaufen können. Sonst kommen im Schnitt 1200 Zuschauer, viele davon werden am Pokalabend im eigenen Stadion beim Public Viewing dabei sein.

Ein echtes Wiedersehe­n gibt es am Dienstag für Niclas Heimann. Der Rödinghaus­ener Torwart, im Juniorenal­ter für den FC Chelsea aktiv, kann auf zwei gemeinsame Jahre mit dem Münchner Trainer Niko Kovac in Salzburg zurückblic­ken. Wie Mannschaft­skollege Flottmann hätte Heimann den jüngsten Durchhänge­r des FC Bayern gerne etwas später gesehen. Wirklich zu denken gab ihm aber höchstens der wuchernde Zehn-Tage-Bart, mit dem Kovac in der heikelsten Phase der Bayern in der Öffentlich­keit auftrat. »Damit sah er vielleicht ein bisschen wild aus, machte nicht den ausgeschla­fensten Eindruck«, feixt Heimann, der nach der Auslosung direkt an Kovac dachte. »In den zwei Jahren in Salzburg hatten wir täglich miteinande­r zu tun«, erzählt der 27-Jährige, der ahnt: »Wenn ich seine Handynumme­r von damals anrufen würde – ich glaube, da wäre ein Freizeiche­n. Aber wenn wir uns jetzt sehen, gehe ich fest davon aus, dass er mich wiedererke­nnt.« Und wenn nicht, will er am Dienstag auf jeden Fall auf Niko Kovac zugehen.

 ?? Foto: imago/Thomas Bielefeld ?? Willkommen im Wiehenstad­ion: Weil 2500 Plätze zu wenig sind, muss der SV Rödinghaus­en für das Spiel gegen den FC Bayern umziehen.
Foto: imago/Thomas Bielefeld Willkommen im Wiehenstad­ion: Weil 2500 Plätze zu wenig sind, muss der SV Rödinghaus­en für das Spiel gegen den FC Bayern umziehen.
 ?? Fotos: imago/Noah Wedel ?? Ganz Rödinghaus­en war auf den Beinen, als der Kartenvorv­erkauf für das Spiel gegen den FC Bayern München startete. Genug Hände zu schütteln hat Trainer Enrico Maaßen Bauch auch sonst.
Fotos: imago/Noah Wedel Ganz Rödinghaus­en war auf den Beinen, als der Kartenvorv­erkauf für das Spiel gegen den FC Bayern München startete. Genug Hände zu schütteln hat Trainer Enrico Maaßen Bauch auch sonst.
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