Eckart Roloff Die Kernphysikerin Lise Meitner
Vor 50 Jahren starb die bedeutende Kernphysikerin Lise Meitner. Von Eckart Roloff
In ihrem Fach, der Physik, hatte sie mindestens drei Hürden zu überwinden: Sie war eine Frau, stammte, obgleich evangelisch getauft, aus einer jüdischen Familie und war recht schmächtig gewachsen. In Wien, wo sie 1878 zur Welt kam, nannte man solche Kinder Wuzerl. Das steht für Krümel, Körnchen und ist nah an dem, was sie, Lise Meitner, ein Leben lang fesseln wird: die Welt der Atome. Einstein sagte über sie: »Meitner ist unsere Madame Curie, begabter als Curie selbst.« Marie Curie hatte zwei Nobelpreise bekommen. Die Laserforscherin Donna Strickland, die in diesem Jahr ausgezeichnet wurde, ist erst die dritte Frau mit einem Physiknobelpreis.
Frauen waren vor gut 100 Jahren in den Naturwissenschaften höchst selten. Lise Meitner meinte dazu: »Einzigartige Leistungen großer Frauen können im Einzelfall Vorurteile widerlegen, aber die Vorurteile bleiben. Niemand scheint gegen Frauen als Fabrikarbeiterinnen zu protestieren. Aber ich kenne keine Frau, die in der Industrie eine leitende Stelle hat.«
Lise Meitner konnte 1901 in Wien nur als Externe an einem Knabengymnasium ihre Matura (das Abitur) ablegen und danach Physik und Mathematik studieren. Zwei Jahre zuvor war das unmöglich; in Preußen erst von 1909 an. Ihre Promotion erhält ein »einstimmig mit Auszeichnung«. Schnell findet sie Arbeit am Wiener Institut für theoretische Physik. Radioaktivität ist dort eines der neuen Themen; damit war in Frankreich Marie Curie befasst. Bei ihr fragt Lise Meitner (sie war auch examinierte Französischlehrerin) wegen einer Stelle nach. Es gibt eine Absage. »Glücklicherweise«, befindet sie später.
Doch sie erhält (schlecht bezahlte) Arbeit in Berlin bei Max Planck – einem erklärten Gegner studierender Frauen. Sein heute unfassbarer Grund: »Die Natur hat der Frau ihren Beruf als Mutter und Hausfrau vorgeschrieben«; Missach- tung führe zu »schweren Schädigungen«. Heute beträgt der Anteil der Studentinnen in Deutschland 48 Prozent. 45 Prozent der Promotionen sind von Frauen. Bei den Professuren aber gibt es nur 23 Prozent Frauen, bei Lehrstühlen etwa 16 Prozent. In Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik beträgt die Quote der Studentinnen immerhin 32 Prozent.
Um sie zu steigern, startete Nordrhein-Westfalen 1991 ein Lise-Meitner-Programm. Seit 2018 vergibt die Max-Planck-Gesellschaft unter die- sem Namen jährlich Stellen für bis zu zehn Gruppen exzellenter Forscherinnen. Dazu MPG-Präsident Martin Stratmann: »Freie wissenschaftliche Entfaltung, langfristige berufliche Sicherheit und klare Karriereperspektiven sind die Eckpfeiler dieses Programms. Ich bin überzeugt, darüber künftige Direktorinnen der MPG zu gewinnen.«
Lise Meitner leitet immerhin am 1911 gegründeten Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie in Berlin-Dahlem (Chef ist der Chemiker Otto Hahn) von 1918 an die physikalisch-radioaktive Abteilung. Dort beginnt in der legendären Holzwerkstatt eine lange Zusammenarbeit mit Hahn zu Atomen und Kernspaltung. 1907 war Meitner nach Berlin gezogen; dort lebt sie bis 1938. Im Ersten Weltkrieg arbeitet sie als Röntgenassistentin in Spitälern an der Ostfront. Wie Hahn und Millionen andere ist sie von Patriotismus erfasst. Später notiert sie: »Wir waren jung, vergnügt und sorglos – vielleicht politisch zu sorglos.« 1917, zurück in Berlin, entdeckt sie mit Hahn das radioaktive Element Protactinium. 1922 folgt die Habilitation. 1926 wird sie außerordentliche Professorin, die erste für Physik in Deutschland.
Nachdem fest stand, dass neben Protonen und Elektronen auch Neutronen Bausteine der Atome sind, eröffnen sich neue Fragen. »Auf diesem Sektor war Meitner führend«, urteilt der Wissenschaftshistoriker Ernst Peter Fischer, »ihre Daten gaben den Rahmen, in dem man Halt finden konnte.« Doch während Hahn mit Fritz Straßmann weiter die rätselhafte Kernspaltung erforscht, muss Meitner 1938 fliehen, nach Schweden.
»Ich fühle mich meistens einsam, als ob ich in der Wüste lebte«, schreibt sie – und forscht weiter. Mit ihrem Neffen Otto Robert Frisch veröffentlicht sie 1939 einen zentralen Aufsatz über die Rolle von Neutronen bei der Spaltung von Atomkernen. Im selben Jahr beginnt Hitler jenen mörderischen Krieg, dessen Ende die Atombomben von Hiroshima und Nagasaki markieren. Hahn erhält 1944 für die Entdeckung der Kernspaltung den Chemienobelpreis – allein. Doch wie Meitner, die sich als Pazifistin sieht, und andere Forscher, wird er vehement für die friedliche Nutzung der Kernenergie eintreten.
Lise Meitner zieht 1960 nach England. Über 20 hohe wissenschaftliche Auszeichnungen erhält sie (darunter mit Hahn die Max-Planck-Medaille). 48-mal wird sie für den Nobelpreis vorgeschlagen, allein von Planck siebenmal, ohne Erfolg. Im Ehrenhof der Humboldt-Universität und in Wien gibt es Meitner-Denkmäler, das Element Meitnerium trägt ihren Namen.
Am 27. Oktober 1968 starb Lise Meitner in Cambridge. Begraben wurde sie auf dem Friedhof von Bramley. Auf dem Grabstein steht: »A physicist who never lost her humanity« – eine Physikerin, die nie ihre Menschlichkeit verlor.
»Einzigartige Leistungen großer Frauen können im Einzelfall Vorurteile widerlegen, aber die Vorurteile bleiben.« Lise Meitner