Velten Schäfer Ein fragwürdiger Jude: Wolfgang Seibert
Der fragwürdige Jude Wolfgang Seibert und die fantasierte Cherokee Andrea Smith. Von Velten Schäfer
Es gibt Menschen, die wirklich – und schwer – gelitten hatten, in »Autobiografien« aber weit über das Erlebte hinaus fantasierten. Und es gibt Akte der reinen Selbsterfindung.
Personen, die als etwas zu gelten verstehen, das sie nicht sind, gab es schon immer. Es geht dabei nicht bloß um Geld, sondern mehr noch um Ansehen. Nach 1945 aber ist – als nicht nur erstmals ein politisches Regime vor Gericht stand, sondern zudem allmählich ein Prozess breiter, auch massenkultureller Auseinandersetzung mit staatlichen Verbrechen einsetzte – eine neue Form von Hochstapelei entstanden: sich nämlich nicht als Adliger, Offizier oder Arzt aufzuspielen, sondern als Opfer der Geschichte.
Es gibt dabei Menschen, die wirklich – und schwer – gelitten hatten, in »Autobiografien« aber weit über das Erlebte hinaus fantasierten. Und es gibt Akte der reinen Selbsterfindung. Zumeist geht es um den Naziterror und den Holocaust. Und nicht nur Deutschland, sondern auch Belgien, Spanien und die Schweiz kennen solche Fälle. Das Ziel der Maskerade variiert – mal mag es der Versuch sein, für sich einer historischen Scham zu entkommen, die man bei anderen vermisst. Oder es ging prosaischer um das Aufladen von literarischen oder künstlerischen Werken und Biografien.
Nun gibt es in Deutschland offenbar eine Neue, prominente Causa. Nach aufwendiger Recherche behauptet der »Spiegel« – vom Betroffenen schnell dementiert, dann aber bis Redaktionsschluss entgegen seiner An- kündigung nicht sachlich kommentiert –, dass Wolfgang Seibert ein Hochstapler ist. Der Mann, der seit 2003 der jüdischen Gemeinde in Pinneberg vorsteht und in den Medien immer wieder als Gesprächspartner in Fragen des Judentums, des Antisemitismus und der deutschen Politik auftrat, soll den jüdischen Teil seines Hintergrunds frei erfunden haben, inklusive des Leidens und Überlebens einer Großmutter in Auschwitz.
Das wäre eine neue Qualität makaberen Schwindels. Denn bisher ist – soweit man weiß – in Deutschland noch niemand so weit gegangen, in einer erfundenen Identität herausgehobener Funktionsträger zu werden. Zweitens würde hier der Identitätsgewinn sehr spezifisch eingesetzt: Wie u.a. ein Interviewband des Journalisten Johannes Spohr zeigt, der auch in »nd« positiv rezensiert wurde, hat Seibert einen inneren Konflikt zwischen Jüdischsein und antizionistischen Positionierungen der deutschen Linken immer wieder offensiv inszeniert. Aufgrund auch Seiberts Erzählungen bescheinigt Spohr dem »linken Antisemitismus« einmal mehr eine »verheerende Bilanz«.
Die Causa Seibert wäre, wenn sie sich bestätigt, sozusagen eine Art Spiegelbild des Falls der deutschen Pro-Palästina-Aktivistin Irena Wachendorff. Die hatte ihre Kritik an der ihr zufolge maßlosen Brutalität israelischer Militäraktionen etwa in Gaza wieder- holt mit dem Hinweis darauf beglaubigt, sie sei Nachkomme von Holocaustüberlebenden und habe in Israels Streitkräften gedient – wisse also, wovon sie rede. Doch 2012 musste sie gegenüber der »Jerusalem Post« zumindest einräumen, dass sie nie in der Armee war. Und auch an der Behauptung, ihre Mutter sei in einem Vernichtungslager gewesen, blieben nach ihren Aussagen gegenüber der »Jerusalem Post« Zweifel.
Es liegt nun nahe, solche politischen Basteleien am Selbst, die zumeist von massiver Polemik begleitet werden, für ein deutschjüdisches oder deutsch-israelisches Spezialphänomen zu halten. Dass dem nicht so ist, zeigt eine Reihe von ähnlichen Vorgängen in den USA. Seit in jüngeren Jahren zumindest in Teilen der amerikanischen Gesellschaft eine ernsthafte Aufarbeitung nicht nur der Sklaverei, sondern auch des kolonialen Genozids eingesetzt hat, häufen sich auch dort Fälle von Opferidentitätsanmaßung.
Da gibt es die demokratische Politikerin Elizabeth Warren, die jüngst per Gentest bewiesen haben will, dass vor sechs bis zehn Generationen ein Ureinwohner unter ihren Ahnen gewesen sei. 2015 machte Rachel Dolezal von sich reden, die sich bemerkenswerterweise auch äußerlich von einer Weißen in eine Farbige verwandelte und einem Ortsverband der afroamerikanischen Bürgerrechtskoalition NAACP vorsaß.
Weniger bekannt ist die gleichfalls 2015 aufgekommene Affäre um Andrea Smith. Die Historikerin war in den USA 2005 mit der (auf Deutsch nicht vorliegenden) Arbeit »Eroberung: Sexuelle Gewalt und der Genozid an den amerikanischen Ureinwohnern« bekannt geworden. Schon vorher agierte sie als Mitgründerin und Frontfrau von INCITE!, einer Organisation »farbiger Feministinnen« gegen sexualisierte Gewalt. Smiths Wissenschaft ist überzeugend: Sie zeigte erstmals, wie systematisch sexuelle Gewalt – als synchrone Erotisierung und Abwertung nicht nur der weiblichen, sondern aller Ureinwohner, in Aktionen gegen die selbstbestimmte Reproduktion – in deren Unterwerfung, Verdrängung und partieller Ausrottung zum Einsatz kam. Sehr fragwürdig ist aber zugleich ihr Identitätsanspruch: Mehrere Genealogen der Cherokee, denen sich Smith zurechnet, haben denselben entschieden zurückgewiesen.
Was aber sagt das nun über Smiths Vorwurf an den »weißen« Feminismus, farbige Perspektiven auszublenden? Was sagt Seiberts oder Wachendorffs mutmaßliche Maskerade über die Kritik am linken Antizionismus beziehungsweise an israelischer Militärpolitik? Nicht viel. Aber einiges über eine Ich-Gesellschaft, in der – offenbar zunehmend – nur das Subjektive wahr sein darf: Denn nur das Sein ist wirklich rein.