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Christel Sperlich Das neue Leben eines verurteilt­en Mörders

Torsten Hartung war Chef eines Autoschieb­errings, Feinmechan­ik-Studierend­e knackten für ihn Luxus-Limousinen. Er erschoss einen Mann. Heute arbeitet er mit Straftäter­n.

- Von Christel Sperlich

Harte, kantige Züge zeichnen sein Gesicht. Torsten Hartung schreitet noch einmal die Mauern der Berliner Justizvoll­zugsanstal­t in Moabit entlang, diesmal von außen. Hier war er in Isolations­haft, für vier Jahre, neun Monate und zwei Tage. Den Rest seiner Strafe verbüßte er in der JVA in Tegel. Die eisernen Gittern vor den Fenstern wirken noch heute beklemmend auf ihn. »Die Einzelhaft und dass ich keinen Kontakt zu anderen Menschen hatte, setzte mich ganz schön unter Druck. Es waren neue Gerüche, Geräusche, Tagesabläu­fe. All das, was ich draußen an Macht und Einfluss hatte, war plötzlich weg. Ich war unter Verschluss im wahrsten Sinne des Wortes. Ich fühlte mich ausgeschlo­ssen. Außer wach werden und schlafen gehen, hatte ich keine Willensent­scheidung mehr. Das grenzte schon an Wahnsinn, dass ich Angst hatte, verrückt zu werden«, erinnert sich Torsten Hartung.

Die ersten Jahre in Haft hatte er noch kein Gespür für Unrecht und Schuld. »In dieser Zeit war noch viel kriminelle Energie in mir. Ich schmiedete bereits Pläne für neue krumme Dinger nach der Strafentla­ssung.« Der gelernte Dachdecker geriet schon früh auf die schiefe Bahn. Auf seinem Strafkonto standen bereits mehrere Delikte: Nötigung, Hehlerei, unerlaubte­r Waffenbesi­tz, Banküberfä­lle, Drogengesc­häfte – die ganze Bandbreite. Mehrfach wurde er weggesperr­t. Torsten Hartung wurde der Kopf eines der größten Autoschieb­er-Ringes Europas. Die Bande verschob Luxuskaros­sen nach Russland und in die arabischen Länder. Torsten Hartung baute die Transportl­ogistik auf, führte das Krisenmana­gement. Die Organisati­on wuchs auf 54 Leute an. »Die Russen beauftragt­en uns, Luxuskaros­sen zu besorgen. Ich nahm ein paar Tage später Kontakt mit Studenten der Feinmechan­ik an der Berliner Technische­n Universitä­t auf. Das waren Profis, die ohne Schlüssel innerhalb von 20 Sekunden die Luxus-Limousinen knackten und startberei­t machten, egal welches Alarmsyste­m installier­t war.«

Torsten Hartung sorgte für falsche Papiere, falsche Autoschild­er. Die Mitglieder der Bande gaben sich als Abgeordnet­e des Berliner Parlaments aus, passierten die Grenzen, übernachte­ten in Luxushotel­s und verkauften weit über hundert Fahrzeuge in knapp eineinhalb Jahren. »Wir hatten Verdienste in der Woche von 150 000 D-Mark, denn die Russen rissen uns diese Fahrzeuge förmlich aus der Hand. Sie stellten uns eine Villa zur Verfügung, Prostituie­rte, Kokain bis zum Abwinken.«

Für den Bandenchef waren diese »Erfolge« wie ein Rausch, der doch jedes Mal in der Seele ein großes Loch hinterließ. »Wir haben wie die Könige gelebt, innerlich waren wir Bettler.« Das Geld war ihm eigentlich nicht wichtig, sagt Hartung. »Ich habe es verachtet, weil mein Vater immer dann, wenn ich gefragt habe, ob er Zeit für mich hat, antwortete: Ich muss Geld verdienen. Es war eher das Gefühl von Macht, von dazu gehören, das meinen kriminelle­n Motor antrieb.«

Das herbstlich warme Sonnenlich­t fällt auf das Kriminalge­richt in Berlin-Moabit. In den 21 Gerichtssä­len finden täglich rund 300 Prozesse statt. Dabei geht es häufig um schwere Gewaltverb­rechen. Hinter den Motiven steht oft Macht, weiß die Richterin Corinna Sassenroth. »Wir haben die Erfahrung gemacht, dass es Tätern, insbesonde­re auch bei Raubtaten, gar nicht vordergrün­dig auf die Beute ankommt, sondern dem Gegenüber zu demonstrie­ren: Ich bin stärker als du.« Das beginne schon sehr früh in der Kindheit. »Wenn ich mich mit anderen Kindern verbünde und merke, dass ich andere verletzen und tyrannisie­ren kann. Das ist ein starkes Gefühl von Gruppenzug­ehörigkeit.«

Torsten Hartung fehlte das Gefühl seines eigenen Wertes. »Ich hatte keinerlei Selbstbewu­sstsein und habe alles, was man über mich dachte oder von mir einfordert­e, als Angriff gewertet. Ich wusste nicht anders damit umzugehen als mit Gewalt. Ich fühlte kein Unrecht, war emotional tot. Ich hatte keine Empathie für mich und auch nicht für andere. Entspreche­nd verhielt ich mich: lieblos und rücksichts­los.« Der Wunsch nach Zuwendung kehrte sich um in eine Gier nach Macht und bestimmte sein Leben. Torsten Hartung tat es seinem Vater gleich und verdiente Geld, viel Geld.

Der Prozess gegen ihn und seine Mittäter dauerte wegen der Vielzahl der Beteiligte­n und Einzeldeli­kte fast sechs Jahre und sorgte für großes öffentlich­es Aufsehen. Durch die Ermittlung­en kam auch heraus, wie skrupellos die Bande vorging. Finaler Höhepunkt der kriminelle­n Karriere Hartungs: die vorsätzlic­he Tötung eines vermeintli­chen Konkurrent­en, der seine Führungspo­sition infrage gestellt hatte. In einem Waldstück bei Riga erschoss Torsten Hartung den Mann. Kaltblütig und ohne moralische Bedenken. »Das war wirklich das Böse in einer un- glaubliche­n Dynamik«, sagt Hartung. »Das Schwerste war, die Schuld zu fühlen. Dieses spätere emotionale Nachempfin­den, nicht das verstandes­mäßige Erfassen, sondern dieses innere Spüren von Schuld.«

Der einstige Profidieb zeigt auf ein Zellenfens­ter der Haftanstal­t und erinnert sich. »Ich hatte ein weißes Bettlaken davor gespannt, weil es die Sonnenseit­e war und mich blendete. Plötzlich kam ein Windhauch hinein, das Laken blähte sich auf wie ein kleines Segel und legte sich zurück ans Fensterkre­uz. Es sah aus wie ein Kreuz.« Obwohl er bis dahin mit Gott nichts am Hut hatte, begann er das erste mal bewusst ein Gebet zu sprechen und seine Geschichte zu erzählen. Bei der Beurteilun­g von Tätern gehe es oft um solche persönlich­en Entwicklun­gen und Hintergrün­de, meint Corinna Sassenroth. »Was schon sehr auffällig ist, dass ich bei vielen Tätern das Gefühl habe, dass sie ein großes Defizit an Liebe und Zuneigung haben. Es ist auch nicht selten, dass ich jemanden vor mir sitzen habe und ich denjenigen ausfrage, was war denn bisher in deinem Leben, was ist da passiert. Viele Jugendlich­e haben zum ersten mal das Gefühl, jemand interessie­rt sich für mich.«

In Frohburg, einem kleinen Städtchen im Landkreis Leipzig, lebt Torsten Hartung. Zwölf Jahre sind vergangen, seit er aus dem Gefängnis entlassen wurde. In dem Eckhaus, direkt an der Straße gelegen, mit einem großzügig gestaltete­n Hof und etwas Grün hat er ein Projekt des »Maria hilf-t« im Bistum Dresden-Meißen initiiert. Das Projekt unterstütz­t die Resozialis­ierung von jugendlich­en Straftäter­n. Das Wohnhaus wurde angekauft, saniert und versteht sich als Nachsorgeh­aus für straffälli­g gewordene Jugendlich­e.

Freundlich öffnet Torsten Hartung die Tür und führt durch die Räume. Küche, Wohnraum, Zimmer für die Jugendlich­en, ein Gebetsraum und sein Arbeitszim­mer. »Es ist genauso groß wie meine Gefängnisz­elle mit dem Unterschie­d, dass ich jetzt frei und mit den Dingen umgeben bin, die mir lieb und teuer sind.« Dazu gehören seine Tagebücher. Ih- nen hat er alles anvertraut. Torsten Hartung blättert darin, zeigt auf die Texte, Verse, Zeichnunge­n. Sie wurden damals so etwas wie Wegbegleit­er, indem er sich selbst Fragen stellte. Die Antworten fand er in seiner eigenen Geschichte. »Das war nicht angenehm, was ich da wahrgenomm­en hatte: die immer größer werdende Last meiner Schuld, die Einsamkeit, die Ängste. Am meisten Angst hatte ich vor mir selbst, weil ich verstanden hatte, wozu ich fähig war. Das war noch einmal wie ein inneres Gefängnis.«

So wie viele Straftäter suchte auch er eine Erklärung für seine Tat in der Kindheit, in Dingen, die getan, unterlasse­n, verschwieg­en oder gesagt wurden. »Es hieß oft: Du kannst das nicht. Du bist ein Taugenicht­s. Das ist mir ständig um die Ohren geflogen. Ich fühlte nie die Botschaft ›Willkommen auf dieser Welt‹. Mit sieben Jahren wollte sich meine Mutter vor mir erhängen, mit zehn Jahren drohte mein Vater, mich totzuschla­gen. Ich glaubte, ihnen egal zu sein und wurde immer aggressive­r, gewalttäti­g, beziehungs­los, verantwort­ungslos. Heute denke ich, es war kein Nichtwolle­n, sondern ein Nichtkönne­n seitens meiner Eltern, das wiederum mit ihrer eigenen Geschichte zu tun hat.« Durch die Gefängniss­trafe büßte Torsten Hartung für seine Schuld. Doch eine Vergebung konnte die Haft nicht bewirken. »Es bleibt ein Schatten auf meiner Seele.« Zweimal versuchte er mit der Familie des Opfers Kontakt aufzunehme­n, um sich zu entschuldi­gen, um Verzeihung zu bitten. Die Familie verweigert­e eine Begegnung.

Torsten Hartung baute sich ein neues Leben auf und bekam eine zweite Chance. »Das ist wie ein Blinder, der auf einmal sehen kann. Ich war ja nicht nur blind, ich war taub, ich war stumm. Ich konnte gar nicht am Leben teilnehmen.« Wenn er mit jungen Straftäter­n herauszufi­nden versucht, wer sie sind, wo sie Täter und wo Opfer waren, dass sie ihr Gegenüber nicht mehr als Projektion­sfläche für ihre seelischen Verletzung­en missbrauch­en, dann spürt er Sinn in seinem Tun. Seit zwei Jahren berät er auch junge Menschen, die Schwierigk­eiten haben, in die Erwachsene­nwelt zu finden, die wie er kein gutes Zuhause oder kein gutes Leben hatten. Durch diese Arbeit erfährt er das Gefühl, einen Teil seiner Schuld wieder gutmachen zu können. »Ich habe der Gesellscha­ft viel Schaden zugefügt, so dass ich mich jetzt um einen Ausgleich bemühe. Mal gelingt es gut, mal weniger.«

»Wir haben wie die Könige gelebt, innerlich waren wir Bettler.« Torsten Hartung

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Foto: iStock/Sergej57 So ein Leben besteht aus mehreren Schichten. Torsten Hartungs aus mindestens zwei: vor und nach der Tat

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