Karlen Vesper Defoe und Flüchtlinge aus der Pfalz
Warum Daniel Defoe deutsche Flüchtlinge willkommen hieß.
Sein Robinson Crusoe, der den von den Seinen verfolgten Freitag rettet und mit ihm friedlich zusammenlebt, ist eigentlich eine schöne Parabel für heute. Sie zeigt, wie Menschen unterschiedlicher Herkunft, Sozialisation und Kultur zusammenleben, sich verstehen können. Der Klassiker der Weltliteratur, gemeinhin reduziert auf einen Abenteuerroman, war Gesellschaftskritik und Utopie zugleich. Autor Daniel Defoe, ein früher britischer Aufklärer und gottesfürchtiger Mann (der nach dem Willen des Vaters Geistlicher werden sollte), mischte sich vor allem mit Essays in die politischen Debatten seiner Zeit ein, stritt nicht nur gegen religiöse Intoleranz und für die Hebung des Lebensstandards der von Hunger- und Naturkatastrophen besonders hart betroffenen arbeitenden Massen, sondern ebenso für Flüchtlinge, die sozialem Elend oder religiöser Verfolgung andernorts zu entfliehen suchten.
Am 11. August 1709 erschien in England sein Traktat, das für die unbedingte Aufnahme von 10 000 Flüchtlingen aus der Pfalz plädierte. Wie heute in Europa, so waren auch damals um ihren Besitzstand besorgte Bürger über den Zustrom der »Hungerleider« not amused. Defoe studierte offizielle Dokumente und Statistiken, sprach mit Flüchtlingen in den Auffanglagern in Blackheath und Camberwell sowie mit seinen Landsleuten, einfachen Menschen wie hohen Beamten. In seiner in Briefform verfassten Streitschrift berichtet er von fremdenfeindlicher Hetze und Übergriffen auf die deutschen Flüchtlinge, aber ebenso über Zivilcourage, Mitleid und Hilfe für die an Engelands Küsten gestrandeten Heimatlosen. Der Schriftsteller und Kaufmann, der drei große Geschäftshäuser in London unterhielt, argumentiert, deren Aufnahme würde Britannien nicht nur zu nationaler Ehre gereichen, sondern zudem immensen wirtschaftlichen Gewinn bringen. Er war der Meinung, der Wohlstand einer Nation steige mit seiner Bevölkerungszahl. Dies habe der Große Kurfürst von Brandenburg erkannt, der »in der Kenntnis der Religionspflichten und wahren Religionsmaximen niemandem nachstand, aus christlichem Mitgefühl mit den verfolgten Protestanten Frankreichs diese eingeladen, in seine Lande zu kommen und sich dort anzusiedeln«. Und sie gar mit Privilegien ausstattete. Defoe verweist auf die durch Missernten, Pest und Kriege dezimierte Einwohnerschaft des Königreichs, die durch Einwanderer belebt und gesunden werde.
Selbst Urenkel kontinentaler Einwanderer, betont er: »Es ist unmöglich, dass Britannien zu viele Menschen haben sollte, sollten 3 Millionen Fremde herkommen und sich hier ansiedeln; ja, und ob sie gleich nichts mitbrächten als ihre Hände, würden sie doch unser Nationalvermögen vermehren, da durch die Arbeit dieser Menschen und ihre Ausgaben für Lebensbedürfnisse das Grundkapital erhöht, das Wachstum unseres Landes verstärkt und unsere Waren konsumiert würden.« Eine Einsicht, auf die man auch in deutschen Wirtschaftskreisen heute trifft. Nach Defoes Rechnung würden die 10 000 Pfälzer, sinnvoll beschäftigt, mit mindestens 80 000 Pfund jährlich (damals ein üppiger Betrag) zum Reichtum des Empires beitragen. Akribisch listet er die Berufe der Pfälzer auf: Ackerbauer und Winzer, »Schulmeister«, Weber, Bäcker, Steinmetze, Schneider, Schlachter etc. – alles »besonnene, bescheidene, höfliche, fleißige und ehrliche Menschen, ohne die geringste Spur von Unsittlichkeit, Ausschweifungen und Profanität; heiter in ihrer katastrophalen Lage, dankbar für das, was hier für sie getan wurde, und in allen Dingen benehmen sie sich, ohne jemanden zu beleidigen oder zu kränken«, wie er wider Vorurteile konstatiert. Er entkräftet ein auch heute gern vorgebrachtes Scheinargument, wonach die Migranten Arbeitsplätze kosten, und versichert, dass deren Integration »ohne Nachteile oder Lohnsenkungen für die einheimischen Armen« bleibe. Engländern, die sich gegenüber Flüchtlingen unbarmherzig zeigen, droht Defoe gar mit dem Jüngsten Gericht, da »unser Erlöser besonders darauf achten wird, ob, als er hungrig gewesen, sie ihn gespeist haben, als er durstig gewesen, sie ihn getränkt haben, als er nackt gewesen, sie ihn bekleidet haben«.
Dem Deutschen Taschenbuchverlag ist zu danken, Defoes so aktuell anmutendes, aufklärendes Traktat neu ediert zu haben. Daniel Defoe: Kurze Geschichte der pfälzischen Flüchtlinge. Aus dem Englischen von Heide Lipecky. dtv, 86 S., br., 8 €.