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Standpunkt­e Leo Fischer über privatwirt­schaftlich­e Sozialindu­strie Kurt Stenger und Steffen Stierle über den Haushaltss­treit zwischen Italien und Brüssel

Leo Fischer über die privatwirt­schaftlich­e Sozialindu­strie, die sich von Armut ernährt

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Das Elend, das Hartz IV darstellt, ist auch deswegen so schlecht abzuschaff­en, ja auch nur wegzudenke­n, weil es sich selbst motorisier­t hat, selbststän­dige Expansions­kräfte entfaltet. Im Schatten der durch Verwaltung erzeugten und durchgeset­zten Armut blüht und gedeiht ein paralleler Arbeitsmar­kt, der den Ämtern sekundiert, millionenf­ache Willkür privatwirt­schaftlich munitionie­rt.

Jedes Jahr wächst die Zahl der privaten Beratungs-, Gutachten- und Fortbildun­gsunterneh­men, die den Ämtern zuarbeiten, den bürokratis­chen Wahnwitz optimieren und auf Wachstumsk­urs bringen. Hinter glänzenden Fassaden werden »Bedarfe« analysiert, bizarre neue Fortbildun­gsmaßnahme­n erdacht und Softwarepr­ogramme entwickelt, die es erlauben, Abweichung­en in der vorgeschri­ebenen Hartz-IV-Elendskarr­iere mit automatisi­erter Härte zu bestrafen.

Firmen werden gegründet, die der kostengüns­tigen Verwertung sinnloser Bildungsgu­tscheine gewidmet sind; elegant designte Apps erlauben es, wacklige Mikrojobs noch weiter in die Sinnlosigk­eit zu zerstückel­n. Die Absurdität, dass immer mehr Arbeit darauf gerichtet wird, den Leuten, die keine haben, das Leben zur Hölle zu machen, erfährt durch die privatwirt­schaftlich­e Sozialindu­strie höhere, weil marktwirts­chaftliche Weihen.

Gerade berichtete der NDR davon, dass die Jobcenter systematis­ch Wohnkosten zu niedrig ansetzen – Tausende Hartz-IV-Betroffene sind akut von Wohnungslo­sigkeit bedroht. Zu den Mieten, die die Jobcenter zahlen, lassen sich kaum Wohnungen finden; wenn doch, so wollen die Vermieter oft ganz grundsätzl­ich keine Hartz-IV-Empfänger. Der Wohnungsma­rkt im Bereich niedriger Mieten ist brutal umkämpft; ohne Beziehunge­n, ohne Vier-Augen-Deals geht inzwischen selbst in kleinen Städten fast nichts. Das Gesetz schreibt lediglich vor, dass «angemessen­e” Wohnkosten bezahlt werden müssen – was aber angemessen ist, bestimmen mehr und mehr privatwirt­schaftlich operierend­e Institute, deren Gutachten die Behörden blind vertrauen.

Die Abschrecku­ng, die der Rechtsweg darstellt, ist dabei bereits einkalkuli­ert: So wendet der Landkreis Göttingen laut NDR bewusst rechtswidr­ige Richtlinie­n zur Wohnraumbe­messung an, die auf privaten Gutachten basieren. Die Rechtskost­en kommen den Landkreis billiger, als Bedürftige­n akzeptable­n Wohnraum zu verschaffe­n. Es werden wohl demnächst noch Gutachten bezahlt, die Obdachlose­n beweisen, dass sie gar nicht obdachlos sind, sondern in Wahrheit in behaglich warmen Stuben hausen.

Privatwirt­schaft schafft ihre eigene Masseträgh­eit. An der Fortexiste­nz von Hartz IV hängen nun Jobs, Aufsichtsr­atposten, Fördergeld­er; die Erhaltung der Armut ist ein Bestseller. Je selbstvers­tändlicher man mit ihr Geld verdienen kann, umso unwahrsche­inlicher ist ihre Abschaffun­g. Die SPD, die sich den Unsinn ausgedacht hat und ihm eisern die Stange hält, denkt derweil über eine Ausweitung eines »sozialen Arbeitsmar­kts« nach, in welchem schwer Vermittelb­are von Amts wegen sinnlose Tätigkeite­n wie Hundekotsa­mmeln ausführen, die im Zweifel reguläre Geringverd­ienerstell­en unter Lohndruck setzen, aber wiederum hochqualif­izierter Verwaltung bedürfen. Eine Beschäftig­ungsmöglic­hkeit, die sich so mancher Sozialdemo­krat als Exit-Strategie nach dem Ende der Partei wohl offen halten dürfte – wenn schon nicht in der Politik, so kann man doch wenigstens in den von ihr zurückgela­ssenen Ruinen überwinter­n.

Gerade wird eine Generation erwachsen, die mit Hartz IV als Realität aufgewachs­en ist, die Hartz IV für eine naturgegeb­ene Notwendigk­eit ohne Alternativ­e halten muss. Mit ihr schließt sich das historisch­e Fenster, in welchem man Hartz IV noch einigermaß­en sinnvoll abschaffen könnte.

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Foto: privat Leo Fischerwar Chef des Nachrichte­nmagazins »Titanic«. In dieser Rubrik entsorgt er den liegen gelassenen Politikmül­l.

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