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Verschoben­e Traumata, erfundene Leben

Ich, das Opfer: Falsche autobiogra­fische Zeugnisse von Weltkrieg, Naziterror und Konzentrat­ionslagern haben eine lange Tradition

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Im Jahr 1965 erschien Jerzy Kosińskis

Buch »The painted Bird«. Es handelt von einem Jungen, der durch die Kriegswirr­en in Polen irrt. Als Roman über das Panorama des Schreckens ist das Buch – jüngst auf Deutsch neu aufgelegt – bewegend. Doch ist es, anders als von Kosiński zum Erscheinen kommunizie­rt, nicht autobiogra­fisch. Der Autor, 1933 als Józef Lewinkopf geboren, wurde zwar im Inferno von Krieg und Vernichtun­g von den Eltern getrennt. Er hatte aber das relative Glück, die Kriegsjahr­e unbehellig­t in einer katholisch­en Familie zu überstehen. Ähnlich ist der Fall – und das Buch – von

Misha Defonseca. Die Belgierin, 1937 als Monique de Wael geboren, war tatsächlic­h Opfer: Ihre Eltern wurden als Widerstand­skämpfer verhaftet und umgebracht. Weil aber ihr Vater – wohl unter Folter – Aussagen gemacht hatte, lebte das Kind mit einem Stigma. Ihre 1997 erschienen­en Erinnerung­en, in der sie gleichfall­s als flüchtende­s Kind durch Polens Wälder streift, sind aber Fiktion. 2008 räumte sie das ein, 2014 wurde sie, weil »Überleben unter Wölfen« ein internatio­naler Bestseller war, zu einer hohen Rückzahlun­g verurteilt.

Auch Binjamin Wilkomirsk­is »Bruchstück­e. Aus einer Kindheit 1939–1948« spielen im Osten, u.a. im Baltikum. Das 1995 in Deutschlan­d erschienen­e Buch machte zunächst Furore. Dann stellte sich heraus, dass der Autor aus einem Waisenhaus von einer wohlhabend­en Züricher Familie adoptiert worden und als Bruno Dösseker aufgewachs­en war. Die Schweiz hatte er in der fraglichen Zeit nicht verlassen. Seine »Erinnerung­en« bildeten sich in therapeuti­schem Rahmen und verschoben wohl Waisen-Traumata auf historisch­es Terrain.

Enric Marco, 1921 in Barcelona geboren, war ab 2001 Präsident der spanischen Organisati­on der Überlebend­en von Mauthausen. 1978 hatte er ein Erinnerung­sbuch veröffentl­icht. 2005 musste er zurücktret­en, als ein spanischer Historiker herausfand, dass er weder im KZ Maut- hausen noch in Flossenbür­g jemals eingesesse­n hatte. Er war vor Francos Abrücken von Hitler freiwillig zum Arbeitsein­satz nach Deutschlan­d gekommen – und später tatsächlic­h nur kurz inhaftiert.

2017 stellte sich in den Niederland­en heraus, dass Isabel van Boetzelaer in ihrer angeblich wahren Familienge­schichte »Kriegselte­rn« eine Beteiligun­g ihres Großvaters am 20. Juli erfunden hatte.

Fast zeitgleich fiel posthum auf, dass

Rosemarie Koczy (1939-2007) weder jüdisch noch KZ-Überlebend­e war. Das hatte die deutsch-amerikanis­che Künstlerin aber stets behauptet – und sich in ihrer Praxis auch plakativ darauf bezogen.

Auch Otto Uthgenannt, ein hierzuland­e zeitweise sehr präsenter »Zeitzeuge«, war kein Jude und nicht als Kind im KZ. 2012 wurde bekannt, dass er sich diese Geschichte wohl in den USA zugelegt hatte, wo er wegen Betruges einsaß – um als Deutscher ein positives Bild abzugeben?

Wenn sich bestätigt, was nun eine Recherche des »Spiegel« behauptet, hat auch

Wolfgang Seibert, Vorsitzend­er der jüdischen Gemeinde Pinneberg, seinen jüdischen Familienzw­eig erfunden – neben anderen Details seiner bewegten und bewegenden Biografie. Ob er als Jude anzusehen ist, liegt in jedem Fall im Ermessen der Religionsg­emeinschaf­t. nd

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