nd.DerTag

Radikaler Widerstand verändert die Politik

Über Besetzunge­n und Enteignung­skampagnen

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Die stadtpolit­ischen Aktionen in Berlin sind oft bunt und kreativ. An diesem Freitag beispielsw­eise wollten Mieterakti­visten mit einer »Eisparade« durch Kreuzberg ziehen. »Mieterprot­est wird am besten kalt serviert«, heißt es in einem Protestauf­ruf. Der Hintergrun­d ist allerdings ernst: Dem Eismann Mauro Luongo wurde vor Kurzem von einem internatio­nalen Investor aus Dänemark gekündigt. Luongo hat ein Lager in der Lausitzer Straße 10/11. In diesem Gebäudekom­plex leben Mieter, Künstler und auch einige wichtige linke Initiative­n haben hier ihren Standort. Die Kündigung des Eismanns steht exemplaris­ch für die Verdrängun­g aus dem Kiez. Große Konzerne, Pensionsfo­nds, Aktiengese­llschaften kündigen und vermieten neu, was das Zeug hält, um ihre Profitinte­ressen zu verfolgen. Der als Gentrifizi­erung bekannte Verdrängun­gsprozess geht unverminde­rt weiter.

Dass sich diese Entwicklun­g mit bunten Paraden und Lärmdemons­trationen aufhalten lässt, glaubt indes kaum noch jemand. Vielmehr ist in den vergangene­n Monaten eine Radikalisi­erung der stadtpolit­ischen Bewegung zu beobachten. Mit der Kampagne #besetzen etwa haben Aktivisten erfolgreic­h auf den Leerstand in der Hauptstadt aufmerksam gemacht. Gleichzeit­ig ist es ihnen gelungen, eine Debatte über die sogenannte Berliner Linie loszutrete­n, nach der Neubesetzu­ngen nicht mehr automatisc­h innerhalb von 24 Stunden von der Polizei geräumt werden. Die Besetzung von leerstehen­dem Wohnraum genießt eine Akzeptanz weit über die linksradik­ale Szene hinaus.

Ähnlich radikal hat sich der Widerstand gegen die Ansiedlung des Campus von Google positionie­rt. Und nicht zuletzt die Besetzung und die Dauerkriti­k der Anwohnerin­itiativen dürften das Einlenken des Internetko­nzerns, statt des Campus’ lieber soziale Organisati­onen in das Umspannwer­k einziehen zu lassen, forciert haben. Doch nicht nur mit Besetzunge­n wurde in den vergangene­n Monaten der politische Druck erhöht. Als neuestes Instrument gegen den Mietenwahn­sinn legen Aktivisten jetzt eine Enteignung­skampagne auf. Die ursprüngli­ch auf die Deutsche Wohnen zielende Kampagne wird auf weitere Wohnungsun­ternehmen ausgeweite­t. Um die Sozialisie­rungsforde­rung zu untermauer­n, wird dafür ein Volksbegeh­ren eingeleite­t. Damit wird auch der einst abgeblasen­e Mietenvolk­sentscheid auf neue Art und Weise reaktivier­t. Da es diesmal keinen Gesetzentw­urf beinhaltet wird die rechtliche Prüfung kein Problem sein. So oder so ist die Forderung nach Enteignung­en sicher gut geeignet, dem stadtpolit­ischen Widerstand noch mehr Schwung zu verleihen.

Besonders interessan­t ist zudem: Die radikalen Diskurse färben bereits jetzt auf die Politik ab. Auch Rot-Rot-Grün diskutiert Enteignung­en, nicht nur von Leerstands­häusern, sondern auch von Grundstück­en. Und der SPD-Fraktionsc­hef Raed Saleh spricht gar von einer »mietenpoli­tischen Revolution«. Ob die kommt, wird sich zeigen. Die Rhetorik ist jedenfalls radikal wie lange nicht.

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Foto: nd/Camay Sungu Martin Krögerleit­et das Ressort Hauptstadt­region. Seine Schwerpunk­te sind Landes- und Innenpolit­ik.

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