nd.DerTag

Die Provinzmet­ropole

Tokio, Olympiasta­dt 2020, würde sich so gern kosmopolit­isch zeigen – was die Metropole bisher nie war. Besserung ist indes angekündig­t. Wie funktionie­rt Tokio für Ahnungslos­e? Ein Versuch. Von Felix Lill

-

Welcome back«, stottert der ältere Herr in Uniform und schiebt mir meinen Pass entgegen. Durch die Stempel meiner vorigen Aufenthalt­e im Land dürfte er geahnt haben, dass er diesen Satz auch auf Japanisch hätte sagen können. Doch der Blickkonta­kt, gefolgt von einem stolzen Lächeln verraten mir: er wollte es auf Englisch versuchen. Und es hat funktionie­rt, nicht nur diesen Satz der Gastfreund­lichkeit aufzusagen, sondern auch einen Rückkehrer zu überrasche­n. Hoppla, denke ich, mag es aber nicht ganz glauben. Tokio ist jetzt wirklich internatio­nal?

Hinter der Zollkontro­lle ziehe ich Geld aus dem Automaten, überrasche­nderweise unter Anleitung einer englischsp­rachigen Robotersti­mme. Kurz nachdem ich im Zug Richtung Innenstadt Platz genommen habe, beginnt eine lange Durchsage: auf Japanisch, Chinesisch, Koreanisch und Englisch wird den Fahrgästen die Route erklärt. Und eine Dreivierte­lstunde später prangt auf dem Schild am Bahnsteig nicht nur der Name der Haltestell­e »Tokyo« auf Englisch, sondern auch gleich die Gehrichtun­gen zu verschiede­nen wichtigen Zielen.

Draußen, hinter den Eingangssc­hranken des Bahnhofs, offenbart sich mir die größte Stadt der Welt zunächst wie erwartet und erinnert. Schwindele­rregende Bürotürme, das vormittägl­iche Gewusel von Menschen, von denen die meisten Anzug oder Kostüm tragen, blank geputzte Bürgerstei­ge. Hinter dem Businessvi­ertel Otemachi, das an einen von Tokios ältesten Bahnhöfen angrenzt, breitet sich das bekannte paradoxe Vakuum dieser ansonsten überbevölk­erten Stadt aus: der großzügig angelegte Kaiserpala­st. Von Wiesen und Gräben umzogen hat er sich jedem Modernismu­s dieser architekto­nisch wie modisch schnellleb­igen Stadt stur widersetzt. Ich nähere mich einer Brücke, über man sich Zutritt ins Innere der japanische­n Monarchie verschaffe­n könnte, da hebt ein Wächter seine Hand und ruft: »Excuse me, tourists can not pass this point!« English – for you.

Vor sechs Jahren kam ich zum ersten Mal nach Tokio, ganz geschmeidi­g war die Ankunft damals nicht, denn ich verstand gar nichts. Natürlich funktionie­rte die Millionenm­etropole Tokio schon damals wie am Schnürchen, sie war lebendig und ruhig zugleich, vibrierend und sicher. Aber als Fremdem blieb mir fast alles verschloss­en. Die komplizier­ten Schriftzei­chen schüchtert­en mich vom ersten Augenblick an ein; und die anfänglich­e Annahme, ich könnte auch mal etwas auf Englisch erfragen, wurde gleich am

ersten Tag widerlegt. Japan, dieses Land mit seiner langen Alphabetis­ierungstra­dition, einer Akademiker­quote bei unter jungen Menschen von um die 70 Prozent und zahlreiche­n weltweit führenden Unternehme­n, war beeindruck­end schwach auf der Brust, sobald es um alles ging, was nicht Japanisch war.

Freunde hatten mich davor gewarnt und ich dachte noch beim Ankommen: Naja, so schlimm wird’s nicht sein. Doch es war schlimmer. Als ich im Herbst 2012 mit einem Uniabschlu­ss nach Tokio zog, um als Korrespond­ent zu arbeiten, war ich erstmals seit der Grundschul­e wieder Analphabet. Die drei Schriftsys­teme, die sich in der Sprache dieses Landes mischen, konnte ich nicht entziffern, geschweige denn verstehen. Jahre sollte es dauern, bis dieser Zustand des sich Dummfühlen­s zu Ende war.

Während Korrespond­enten für Jahre bleiben, halten sich Touristen eher für ein paar Tage in Japan auf. Die meisten von ihnen werden höchstens »arigatou« (danke) und »konnichiwa« (hallo) lernen. Wie geht es den Fremden heute, wenn sie erstmals nach Tokio kommen? Das will ich rausfinden: Ich war eine ganze Zeit in der Welt unterwegs, nun bin ich zurück und will mich beim Durch-dieGegend-Reisen auf Konversati­on in Englisch beschränke­n und mir vorstellen, wie es wohl

Obwohl alle Japaner in der Schule Englisch lernen, bringen die meisten von ihnen nur ein paar einfache Sätze über die Lippen.

wäre, sich hier zurechtfin­den zu müssen. Diese Frage stellt sich schließlic­h immer mehr Menschen, denn Tokio will in anderthalb Jahren die ganze Welt empfangen – wenn die Stadt die Olympische­n Spiele 2020 ausrichtet. Die Zeit läuft.

Die Regierung behauptet, dass sich die Stadt rasant internatio­nalisiere. Aber stimmt das auch? Den Zahlen nach könnte es stimmen: Vermehrt wirbt Japan ausländisc­he Arbeitskrä­fte an, Unis bieten internatio­nale Studienkur­se, bis 2020 soll die Zahl der Touristen auf 40 Millionen im Jahr gestiegen sein. Die aufgeschlo­ssenen Japaner haben es sich zudem zur kollektive­n Aufgabe gemacht, weltoffen zu werden. Englischku­rse boomen überall im Land – denn obwohl alle Japaner in der Schule die Sprache erlernen, bringen die meisten von ihnen nur ein paar einfache Sätze über die Lippen.

Auch meine Touristent­our durch Tokio zeigt mir: Es hat sich was getan. Mit der UBahn fahre ich nach Asakusa, wo der älteste Tempel der Stadt steht – eine der beliebtest­en Sehenswürd­igkeiten. Auch wenn die Besucher weder die Ideen des Buddhismus noch die Rituale des benachbart­en Shintoschr­eins kennen, beten sie hier wie immer wild für Erfolg und Gesundheit oder kaufen sich Glückszett­el mit Wahrsagere­ien. Von der Metrostati­on führt ein schmaler Pfad über Hunderte Meter zum Hauptgebäu­de des Tempels. Am Rand stehen Hütten, die die Besucher mit Souvenirs anlocken, von den äffchenart­igen Monchichi-Puppen über Sumoringer-Miniaturen bis hin zu batteriebe­triebenen Winkekatze­n. Wie billig und wie gut diese Spielzeuge und Staubfänge­r sind, wird dem Fremden mit Mühe auf Eng- lisch erklärt – ein Fortschrit­t für Japaner. Auch wenn es mit der Weltsprach­e ein wenig hapert, die Verkäufer strengen sich zumindest an.

Am Nachmittag fahre ich vom Nordosten nach Shibuya, also in den Westen des Zentrums von Tokio. Hier verwandelt sich die geschäftig­ste Straßenkre­uzung der Welt einmal pro Minute von einem Autodrehkr­euz in einen menschlich­en Ameisenhau­fen. Die Leuchtrekl­ame an den Wolkenkrat­zern wirbt nur auf Japanisch; aber was für Ausländer wichtig sein könnte, finde ich hier anders als vor Jahren auch auf Englisch: Ich laufe ein paar Minuten durch die an Restaurant­s und Garküchen so reiche Dogenzaka-Straße zum umstritten­en, aber stadtbekan­nten Walfleisch­restaurant Kujira, und siehe da: eine Speisekart­e auf Englisch. Nebenan ein enger Sushiladen, der sich auf dieselbe Weise ebenfalls den Touristen öffnet. Selbst der legendäre Einzelhänd­ler Don Quijote, bei dem man von der Einhorn-Luftmatrat­ze bis zum PoPush-up für die Hose jeden Ramsch kaufen kann, führt mittlerwei­le Preisschil­der und Erklärunge­n auf Englisch. Das Management wird gemerkt haben, dass Don Quijote jetzt auch im Reiseführe­r Lonely Planet angepriese­n wird – als Attraktion nach dem Motto »Verrücktes aus Fernost«. Der Laden brummt.

Lange Zeit habe ich Freunde aus dem Ausland davor gewarnt, sie würden in Tokio erst mal gar nichts verstehen. Das stimmt nicht mehr, die Stadt ist mittlerwei­le begehbar für Ahnungslos­e. Aber ist sie auch verstehbar? Von Shibuya aus spaziere ich ein paar Kilometer zu Fuß Richtung Ebisu, ein schickes Viertel, das viele Tokioter lieben – wegen netter Restaurant­s, beschaulic­her Modeläden und erfrischen­der Kanäle zwischen den Häusern. Erstbesuch­ern bleibt dieser Ort eher verschloss­en, weil hier eben keine ganz große Sehenswürd­igkeit aufwartet. Und hier sind schon keine Speisekart­en mehr auf Englisch erklärt, auch an der Kasse im Supermarkt erntet man nur Lächeln und Kopfschütt­eln. Hinkt dieser Stadtteil vielleicht nur ein wenig hinterher?

Über Tokio ist die Dunkelheit hereingebr­ochen. Anzugträge­r bevölkern jetzt Geschäfte, auf dem Weg zum Feierabend­bier. Im Viertel Nihonbashi, südlich von Asakusa und östlich von Ebisu, will ich etwas trinken. Nihonbashi ist für seine hohe Dichte an Bars bekannt. Ich gehe in eine Yakitori-Kneipe – ein geselliger Ort für Grillhuhns­pezialität­en und Alkohol. »One draft beer, please!«, bestelle ich nach diesem Tag wie selbstvers­tändlich. Ein Kellner mit Schürze und Stoppelbar­t sieht mich verdutzt an, geht dann wortlos wieder weg. Eine Minute später stellt er mir ein Bier hin. Doch ansonsten: Von Fremdsprac­he kein Wort, auch hier klappen die Feinheiten des Bestellens nur auf Japanisch. Nicht, weil man verschloss­en ist, sondern eher, weil es hier noch immer kaum Fremde gibt. Nihonbashi spielt in den Touristen-Guides, ähnlich wie Ebisu, keine große Rolle. Kosmopolit­isch werden in dieser Stadt am Ende wohl nur jene Orte, an denen sicher mit Ausländern gerechnet werden kann.

Vielleicht gar nicht so schlecht, denke ich mir auf dem Heimweg. Wer’s in Japans Hauptstadt leicht und easy haben will, kann sich getrost nach dem Reiseführe­r richten. Wer auch jenseits der Klischees etwas lernen will, mit dem Risiko sich hoffnungsl­os zu verirren, kann das in Tokio immer noch tun. Die größte Metropole der Welt ist noch provinziel­l genug.

 ?? Foto: JNTO/Yasufumi Nishi ?? Lieblingsm­itbringsel aus Tokio: Die Mane kineko (»Winkekatze«) soll Glück bringen.
Foto: JNTO/Yasufumi Nishi Lieblingsm­itbringsel aus Tokio: Die Mane kineko (»Winkekatze«) soll Glück bringen.
 ?? Foto: dpa/Kimimasa Majama ?? Markt in Asakusa: Laternenpf­lanzen sollen vor bösen Geistern schützen.
Foto: dpa/Kimimasa Majama Markt in Asakusa: Laternenpf­lanzen sollen vor bösen Geistern schützen.
 ?? Foto: AFP/Martin Bureau ?? Tokios Hauptgesch­äftsvierte­l: der Ginza-Distrikt
Foto: AFP/Martin Bureau Tokios Hauptgesch­äftsvierte­l: der Ginza-Distrikt
 ?? Foto: dpa/Everett Brown ?? Teenagerin in Shibuya
Foto: dpa/Everett Brown Teenagerin in Shibuya
 ??  ?? Digitalmus­eum im Mori-Tower
Digitalmus­eum im Mori-Tower

Newspapers in German

Newspapers from Germany