Wiederaufbauhilfe »noch nicht möglich«
Syrien: Türkei, Russland, Frankreich und Deutschland fordern Verfassungskomitee bis Jahresende
»Das aktuelle Regime vertritt nicht die gesamte syrische Nation.« Präsident Macron
Kaum war der Istanbuler Gipfel zum Friedensprozess in Syrien beendet, bombardierten türkische Kampfjets am Sonntag Stellungen der Kurdenmiliz YPG im Norden des Landes. Mit Frankreich, Deutschland, Russland und Gastgeber Türkei hat am Sonnabend ein ungewöhnliches Quartett über die Lage und Zukunft Syriens beraten. Am Ende stand eine vom russischen Präsidenten Wladimir Putin vorgetragene gemeinsame Erklärung: Der politische Prozess in dem Kriegsland sei Sache der Syrer – sie hätten das Recht, ihre Zukunft selber zu bestimmen. Die Souveränität und territoriale Integrität Syriens müsse erhalten, die Rückkehr von Flüchtlingen solle unterstützt werden. Humanitäre Hilfe sei geboten.
Wie Putin hinzufügte, wolle man versuchen, die verschiede- nen Syrien-Formate – die AstanaGruppe mit Russland, Iran und Türkei und die »Kleine Gruppe« (USA, Großbritannien, Frankreich, Saudi-Arabien, Jordanien, Deutschland und Ägypten) – zusammenzufügen. Perspektivisch sollten die amtierenden syrischen Behörden in diesen Prozess einbezogen werden. Terroristen müssten weiter bekämpft werden.
Der französische Präsident Emmanuel Macron betonte die Verantwortung Moskaus und Ankaras für den Waffenstillstand in Idlib, der unbedingt aufrechterhalten werden müsse. Macron verurteilte auch erneut den Einsatz chemischer Waffen. In der Vierer-Erklärung findet sich kein Wort zur Wiederaufbauhilfe für Syrien. Macron erklärte auf Nachfrage von Journalisten, dass eine solche Hilfe erst bei einem »glaubwürdigen politischen Prozess« im Land beginnen könne. Mit Assad sei das nicht möglich. Macron be- tonte, dass das »aktuelle Regime nicht die gesamte syrische Nation vertritt«.
Vor dem Treffen habe Macron mit US-Präsident Trump telefoniert, wurde in Paris mitgeteilt. Man verfolge »die gleichen Si- cherheits-, humanitären und politischen Ziele in Syrien«. Trump habe seinen Amtskollegen gebeten, »diese gemeinsame Position beim Gipfel in Istanbul einzubringen«.
Bundeskanzlerin Angela Merkel äußerte sich ähnlich wie Macron, betonte allerdings zusätzlich die Arbeit der Verfassungs- kommission, die noch vor Ende des Jahres beginnen sollte. Dafür müsse mehr Druck auf Damaskus ausgeübt werden. Flüchtlinge könnten erst zurückkehren, wenn die Menschen auch vor Verfolgung in Syrien sicher seien.
Die syrische Nachrichtenagentur SANA rückte nach dem Gipfel die Verpflichtung der Teilnehmer zur Souveränität und territorialen Integrität Syriens in den Vordergrund. Deutsche Medien und westliche Nachrichtenagenturen stellten vor allem die Bildung eines Verfassungskomitees heraus.
Türkische Medien rückten den Erhalt der entmilitarisierten Zone in Idlib, Wahlen, die Rückkehr der Flüchtlinge und die Kurden im Nordosten des Landes in den Mittelpunkt ihrer Berichterstattung. Einen Tag nach dem Gipfel zum Friedensprozess beschossen türkische Kampfjets Stellungen der kurdischen YPGMiliz im Norden Syriens.
Herr Hegmanns, Mitte September haben Russland und die Türkei Baschar al-Assad davon abbringen können, eine Großoffensive auf Idlib, die letzte syrische Rebellenhochburg, zu starten. Ist die Gefahr einer weiteren humanitären Katastrophe im seit über sieben Jahren währenden Krieg damit gebannt? Nein! Vielleicht steht die Offensive auf Idlib unmittelbar bevor. Die meisten bewaffneten Gruppen, die Assad noch etwas entgegensetzen können, haben sich in Idlib versammelt. Und Assad hat immer wieder gesagt, dass er ganz Syrien wieder unter seine Kontrolle bringen will. Also auch Idlib. Daher wissen wir nicht, ob der fragile Waffenstillstand hält. Katastrophale Folgen! Wer noch in Idlib ausharrt, ist während des Bürgerkrieges oft schon mehrfach vertrieben worden und geflohen. Die medizinische Versorgung und die Versorgung mit Lebensmitteln in Idlib sind schon jetzt sehr kritisch. Zudem steht der Winter vor der Tür. Viele Häuser sind zerstört, zudem mangelt es an Heizmaterial. Viele Menschen in Idlib sind deshalb schon jetzt in einem sehr schlechten gesundheitlichen Zustand und durch den jahrelangen Krieg schwer traumatisiert. Weitere Kampfhandlungen und eine weitere Flucht würden ihnen sehr schwer zusetzen, es würde viele Toten geben. Niemand weiß, wie diese humanitäre Katastrophe zu bewältigen wäre.
Assad hat von der Opposition gehaltene Gebiete systematisch von humanitärer Hilfe abgeschnitten und aushungern lassen.
Ja, das ist ein riesiges Problem. Das Regime hatte schon vor dem Krieg großes Misstrauen gegenüber Nichtregierungsorganisationen wie der Welthungerhilfe. Und jetzt denken die Assad-Leute erst recht, dass wir die Opposition unterstützen. Dabei richtet sich unsere Hilfe ausschließlich nach der Bedürftigkeit und nicht danach, ob jemand für oder gegen Assad ist. Aber leider wird nicht nur in Syrien Hunger als Waffe eingesetzt, auch wenn das natürlich dem Internationalen Völkerrecht und jeglichen Kriegskonventionen widerspricht.
Als humanitäre Helfer stehen wir dem ziemlich hilflos gegenüber. Wir können den Zugang zu Regionen, in denen Menschen auf unsere Hilfe angewiesen sind, nicht erzwingen. Zudem haben wir die Pflicht, unsere Leute so gut wie möglich zu schützen. Wir arbeiten mit drei lokalen Partnerorganisationen zusammen. Wir können sie nicht auf Himmelfahrtskommandos schicken. Zum Glück ist bislang keiner der rund 50 Mitarbeiter im Einsatz verletzt, ent- führt oder getötet worden. Als Hilfsorganisationen können wir die Vereinten Nationen, die EU und die internationale Gemeinschaft nur immer wieder dazu auffordern, die Verhandlungen über freien und sicheren Zugang zu Menschen in Not nie aufzugeben.
Versuchen die syrische Führung, aber auch die bewaffneten Oppositionsgruppen, die Helfer für ihre Zwecke zu instrumentalisieren? Das kommt vor. Aber die humanitäre Hilfe ist den Prinzipien Neutralität, Unabhängigkeit und Unpartei- lichkeit verpflichtet. Und diese Prinzipien dürfen wir auf keinen Fall aufgeben! Beispielsweise wollte eine islamistische Rebellengruppe einer Hilfsorganisation in Syrien nur erlauben, in dem von ihr kontrollierten Gebiet Hilfe zu leisten, wenn sie eine Abgabe zahlt. Das wurde natürlich abgelehnt. Wir lassen uns in Syrien nicht erpressen. Nicht von den Rebellen, nicht von Assad, von niemandem!
Assad denkt bereits über den Wiederaufbau des völlig zerstörten Landes nach. Sollten die Welthun- gerhilfe und andere Hilfsorganisationen sich daran beteiligen?
Noch herrscht Krieg, und wir sind voll damit ausgelastet, die größte Not zu lindern. Bundeskanzlerin Merkel hat gesagt, dass es denkbar ist, dass Deutschland sich am Wiederaufbau beteiligt, wenn es zu politischen Veränderungen kommt. So sehe ich das auch. Assad macht sein Land kaputt und wir sollen es für ihn wiederaufbauen? Das geht natürlich gar nicht. Aber es darf auch nicht sein, dass die Millionen Syrer, die diesen Krieg nicht gewollt und nicht verursacht haben, im Stich gelassen werden.