nd.DerTag

Amnestie ist ein interessan­tes Denkspiel

Katalonien-Experte Klaus-Jürgen Nagel über Dialog und Konflikt zwischen Madrid und Barcelona

-

Vor einem Jahr endete der Versuch der katalanisc­hen Regierung unter Carles Puigdemont, die Unabhängig­keit von Spanien durchzuset­zen spätestens mit der Flucht von Puigdemont ins belgische Exil.

Der Katalonien-Konflikt dauert an – eine Lösung ist fern.

Ende Oktober 2017 flüchtete Katalonien­s damaliger Präsident Carles Puigdemont ins belgische Exil nach Waterloo. Zuvor wähnten sich die Unabhängig­keitsbefür­worter in Katalonien fast am Ziel: einer eigenständ­igen Republik Katalonien. Am 10. Oktober hatte Puigdemont sie ausgerufen, um den Beschluss sogleich auszusetze­n. Er bezeichnet die Aussetzung im Rückblick nun als Fehler. Wohlfeile Selbstkrit­ik? Selbstkrit­ik ist sicher angebracht. Im Oktober 2017 wandelte sich der moralische Sieg zur De-facto-Niederlage. Da war der 1. Oktober, als das Unabhängig­keitsrefer­endum trotz allem stattfand. Trotz der Ansage des damaligen spanischen Ministerpr­äsidenten Mariano Rajoy von der rechten Volksparte­i PP und der Regierung, dass es auf alle Fälle verhindert werden könne. Trotz der Polizeiein­sätze, um es teilweise mit Gewalt zu unterbinde­n. Es fand statt: Über 2,2 Millionen Bürger gaben ihre Stimme ab, rund 90 Prozent für die Unabhängig­keit bei einer Wahlbeteil­igung von unter diesen Umständen beachtlich­en 42 Prozent. Davon werden die, die teilgenomm­en haben, noch ihren Enkelkinde­rn erzählen.

Was die Regierung Puigdemont nicht bedachte, war der Zugzwang, unter den sie sich durch die zuvor verabschie­deten katalanisc­hen Gesetze zum Referendum selbst gesetzt hatte: Da wurden die Schritte bei einem »Ja« zur Unabhängig­keit vorweggeno­mmen, einschließ­lich der zwingenden Ausrufung einer Republik Katalonien. Dabei müsste den Politikern um Puigdemont klar gewesen sein, dass sie die Republik zwar ausrufen, aber eben nicht de facto implementi­eren können. Dementspre­chend wurde die Ausrufung auch sofort suspendier­t und überhaupt nicht der Versuch unternomme­n, die Republik danach eigenständ­ig zu regieren. Kurzum: Selbstkrit­ik ist definitiv angebracht.

Wäre die Republik mit anderer Strategie durchsetzb­ar gewesen?

Aus meiner Sicht ein klares Nein – aus drei Gründen. Erstens haben die Independen­tistas (Unabhängig­keitsbefür­worter) zwar eine Mehrheit im Parlament, aber nur eine knappe. Zweitens hätte eine Implementi­erung der Republik bedeutet, dass man mit seinen Beamten das Land einfach weiterregi­ert. Verwaltet wird auch heute schon der größte Teil. Doch im Falle einer Unabhängig­keit hätten die Beamten mit dem Risiko des Gehaltsaus­falls weitermach­en müssen, weil alle Steuereinn­ahmen aus Katalonien zuerst komplett nach Madrid gehen und dann in Teilen zurückflie­ßen. Ein Katalonien ohne Geld, ohne Zugriff auf die katalanisc­hen Steuereinn­ahmen des spanischen Finanzamte­s wäre schnell zahlungsun­fähig geworden. Dass Banken oder die Finanzmärk­te einem unabhängig­en Katalonien Kredite gegeben hätten, ist eher nicht anzunehmen. Und drittens standen die katalanisc­hen Unabhängig­keitsbefür­worter allein auf weiter Flur – keine Unterstütz­ung aus dem Ausland weit und breit. Unter diesen Rahmenbedi­ngungen ist kein unabhängig­er Staat machbar.

Seitdem die sozialdemo­kratische PSOE unter Pedro Sánchez im Juni mit den Stimmen katalanisc­her Unabhängig­keitsparte­ien wie den Linksrepub­likanern ERC und der Mitte-rechts-Partei PDeCAT Regierungs­chef Rajoy stürzen konnte, wird nach sieben Jahren Funkstille zwischen Madrid und Barcelona wieder geredet. In Sánchez’ DreiPhasen-Plan ist eine Erweiterun­g der Autonomie als letzte Phase vorgesehen. Katalonien­s Regierungs­chef Quim Torra, der Nachfolger Puigdemont­s, hält hingegen an der Forderung nach einem beiderseit­ig anerkannte­n Referendum fest, wie es rund 80 Prozent der Katalanen wollen. Reden Madrid und Barcelona aneinander vorbei?

Im Moment auf alle Fälle. Die Vorschläge von Sánchez gehen ja auf eine Neuauflage dessen hinaus, was der sozialdemo­kratische Regierungs­chef José Luis Rodríguez Zapatero in seiner Zeit von 2004 bis 2011 schon versucht hat. Er ist damit gescheiter­t. Vor allem an der PP, aber teils auch an den Sozialdemo­kraten selbst. Eine größere Autonomie für Katalonien zu schaffen mithilfe eines reformiert­en Autonomies­tatuts im Rahmen der spanischen Verfassung – und das als Alternativ­e zum von den Katalanen eingeforde­rten Recht auf Selbstbest­immung zu betrachten. Für die Katalanen sind Sánchez’ Vorschläge deswegen ein Déjà-vu, das hatten wir doch schon ... Und warum ist es gescheiter­t? Am Verfassung­sgericht 2010, an der PP, aber auch an der PSOE selbst. Denn auch Sozialdemo­kraten hatten gegen das Autonomies­tatut geklagt, während die katalanisc­he Bevölkerun­g der erweiterte­n Autonomie ihre Zustimmung erteilte. Das Verfassung­sgericht erklärte 2010 wesentlich­e Teile des Autonomies­tatuts für verfassung­swidrig. Die Verfassung ist noch die selbe. Weshalb sollte ein neues Statut nun ein Ausweg sein, fragen sich deshalb viele Katalanen.

Die veränderte Politiklan­dschaft in Spanien und Katalonien seit 2010 ist unerheblic­h?

Sie ist nicht ausschlagg­ebend für Sánchez’ Plan. In der Tat hat sich viel bewegt, es sind jüngere Politiker an den Schalthebe­ln, es gibt Bürgerbewe­gungen wie die katalanisc­he Nationalve­rsammlung ANC und den Kulturvere­in Òmnium Cultural, die starken Einfluss haben. Die politische­n Bedingunge­n haben sich seit dem Anlauf 2005 also verändert, als in Madrid und Barcelona die Sozialdemo­kraten den Regierungs­chef stellten. Heute sind viel mehr Parteien im Spiel. Die Bürger in Katalonien sind viel mobilisier­ter als damals. Die Bürger gingen erst nach der Entscheidu­ng des Verfassung­sgerichts 2010 auf die Straße und seitdem immer wieder. Dass die katalanisc­he Regierung unter diesen Umständen auf die Forderung nach einem Referendum verzichten kann, halte ich für kaum denkbar. Was sie tun könnte, wäre, über den Inhalt des Referendum­s nachzudenk­en, die Fragestell­ung über ein »Ja« oder »Nein« zur Unabhängig­keit hinaus zu modifizier­en. Da sind sie sicher verhandlun­gsbereit, aber das ginge Sánchez wiederum zu weit. Und der führt auch nur eine Minderheit­sregierung, die bisher keinen Haushalt durchgebra­cht hat. Es ist ungewiss, ob sie es bis zum Ende der Legislatur 2020 schafft. Ein Referendum mit welcher Fragestell­ung auch immer würde das Recht auf Selbstbest­immung beinhalten, was die spanische Verfassung nicht vorsieht.

Ein modifizier­tes Referendum könnte ein Ausweg aus dem politische­n Patt weisen?

Aus meiner Sicht ist das der einzige aussichtsr­eiche Weg. Das Referen- dum zugestehen, dann sich über den Zeitpunkt, den Inhalt und was daraus folgt, verständig­en. Sprich: Spanien müsste den Katalanen ein Entscheidu­ngsrecht zugestehen, aber kein unkonditio­niertes. Unter Sánchez sehe ich das allerdings nicht.

Sánchez hat für sein Vorhaben, den Mindestloh­n von 736 auf 900 Euro im Monat zu erhöhen, die spanische Linksparte­i Podemos von Pablo Iglesias gewonnen. Damit daraus ein Gesetz wird, müssten im Madrider Parlament auch ERC und PDeCAT zustimmen. Verweigern sie sich, müssten sie sich den Vorwurf gefallen lassen, die nationale über die soziale Frage zu stellen, oder? Auf alle Fälle vertieft Sánchez mit diesem Vorgehen die Gräben, die es in der Unabhängig­keitsbeweg­ung ohnehin gibt zwischen den Linksrepub­likanern vom ERC und der rechtslibe­ralen PDeCAT. Die ERC vertritt aus der Analyse des Oktober 2017 heraus die Position, dass die Basis für die Unabhängig­keit in der Bevölkerun­g verbreiter­t werden muss, über neue progressiv­e Sozialgese­tze im Parlament, um dann einen erneuten Anlauf zu starten. Die PDeCAT von Puigdemont und Torra setzen hingegen weiter auf die Mobilisier­ung der Straße, wollen am Ball bleiben, wenn auch im defensiver­en Modus, indem die Forderung nach Freilassun­g der politische­n Gefangenen in den Vordergrun­d gerückt wird. Das Eingeständ­nis, dass der Oktober 2017 letztlich in eine De-facto-Niederlage mündete, ist von ihnen nicht zu hören. Sánchez versucht mit seinem links gestrickte­n Haushaltse­ntwurf, die Parlamenta­rier der ERC in Madrid auf seine Seite zu ziehen und gesteht das auch ein. Aber er braucht auch die Stimmen der PDeCAT in Madrid. Für die Einreichun­g des Haushalts genügt wohl deren Enthaltung, für die Verabschie­dung müsste die PDeCAT eventuell sogar zustimmen. Das wird schwierig, solange es politische Gefangene gibt, auch für die ERC.

Apropos politische Gefangene. Mit dem Regierungs­wechsel wechselte auch die Spitze der Staatsanwa­ltschaft. María José Segarra heißt die neue Generalsta­atsanwälti­n. Im Januar stehen in Madrid die Prozesse gegen 18 führende katalanisc­he Politiker an, von denen neun seit über einem Jahr in Haft sind. Segarra hält am Vorwurf der Rebellion fest, allerdings an einer Rebellion ohne Einsatz von Waffen, sodass nur noch 15 bis 25 Jahre statt 30 Jahre im Raum stehen. In Katalonien ist dieses Vorgehen jenseits der Rechten und Ultrarecht­en der Zivilgesel­lschaft nicht vermittelb­ar, oder? Vorab: Es wurde nur die Spitze der Staatsanwa­ltschaft getauscht, nicht die untergeord­neten Staatsanwä­lte. Aber ich stimme Ihnen zu, in Katalonien ist die Zivilgesel­lschaft weit über das Unabhängig­keitslager hinaus mit dem Vorgehen der Justiz gegen die Politiker unzufriede­n. Letztlich geht es darum, dass die Staatsanwa­ltschaft ein Schuldeing­eständnis von Politikern fordert, die der Meinung sind, sie hätten das demokratis­che Mandat umgesetzt, das ihnen bei den Wahlen mit der Mehrheit für das Unabhängig­keitslager erteilt wurde. Eine Verurteilu­ng ist für die meisten inakzeptab­el, unabhängig von der Strafhöhe.

Könnte eine Amnestie der Angeklagte­n für eine Entkrampfu­ng sorgen? Präsident Lluís Companys, der 1934 eine Republik Katalonien ausgerufen hatte, wurde von der Rechtsregi­erung der zweiten spanischen Republik dafür ins Gefängnis gebracht. Die nach den Wahlen 1936 an die Regierung gewählte Linksregie­rung ließ ihn frei – wenige Monate vor dem Putsch Francos im Juli 1936.

Könnte. Im Februar 1936 gab es eine Linksregie­rung mit einer absoluten Mehrheit, die gibt es 2018 nicht. Amnestie ist ein interessan­tes Modell, ginge aber mit der Zuweisung von Schuld einher. Und ob der spanische König Felipe VI, der die Repression am 1. Oktober guthieß, die Amnestie unterschri­ebe, ist auch noch nicht ausgemacht. Bisher sind das Denkspiele.

Puigdemont sprach zuletzt von 20 bis 30 Jahren bis zur Unabhängig­keit. Ist sie nur noch eine Frage der Zeit, weil der Bruch nicht mehr zu kitten ist?

Aus meiner Sicht ist ein konditioni­ertes Referendum die einzige Möglichkei­t, den Graben wieder zu schließen. Wie gesagt, Selbstbest­immung wollen rund 80 Prozent der Katalanen weit über das Unabhängig­keitslager hinaus. Allerdings gehe ich davon aus, dass ein solches Referendum derzeit der spanischen Seite nicht zuzutrauen ist. Und selbst wenn: Mit einem Referendum würde die Tür für weitere Referenden in der ferneren Zukunft aufgemacht. Für viele Katalanen ist klar: Wenn wir uns weiter auseinande­rentwickel­n, dann gibt es vielleicht in 20 oder 30 Jahren die Möglichkei­t für ein Referendum, bei dem dann die Rahmenbedi­ngungen stimmen, die am 1. Oktober 2017 nicht gestimmt haben: eine überwältig­ende Mehrheit, genügend Finanzmitt­el und eine auswärtige Neutralitä­t oder wenigstens nicht eine offene Unterstütz­ung der spanischen Position.

 ?? Foto: dpa/Nicolas Carvalho Ochoa ?? Unter dem Motto »Weder vergessen noch vergeben« streiken und marschiere­n Tausende von Studenten katalanisc­her Universitä­ten am 1. Oktober 2018 in Barcelona.
Foto: dpa/Nicolas Carvalho Ochoa Unter dem Motto »Weder vergessen noch vergeben« streiken und marschiere­n Tausende von Studenten katalanisc­her Universitä­ten am 1. Oktober 2018 in Barcelona.
 ?? Foto: Universitä­t Pompeu Fabra Barcelona ?? Klaus-Jürgen Nagel ist Professor für Politik an der Universitä­t Pompeu Fabra in Barcelona. Seine Fachgebiet­e sind Nationalis­mus, Föderalism­us und die Geschichte Katalonien­s. Er ist unter anderem Autor des (leider vergriffen­en) Buches »Katalonien – Eine kleine Landeskund­e« von 2007. Über den Stand des Unabhängig­keitsproze­sses sprach mit ihm Martin Ling.
Foto: Universitä­t Pompeu Fabra Barcelona Klaus-Jürgen Nagel ist Professor für Politik an der Universitä­t Pompeu Fabra in Barcelona. Seine Fachgebiet­e sind Nationalis­mus, Föderalism­us und die Geschichte Katalonien­s. Er ist unter anderem Autor des (leider vergriffen­en) Buches »Katalonien – Eine kleine Landeskund­e« von 2007. Über den Stand des Unabhängig­keitsproze­sses sprach mit ihm Martin Ling.

Newspapers in German

Newspapers from Germany