nd.DerTag

Das Schlachtme­sser Liebe

Zum 70. Geburtstag des Schauspiel­ers Thomas Thieme

- Von Hans-Dieter Schütt

Grausige Intelligen­z. Und der Körper wird Wanst. Ein König als Kotzbrocke­n. Richard III., Dirty Rich Modderfock­er, in den genialen zehnstündi­gen »Schlachten!« in Hamburg und Salzburg. Text? Erbrochene­s Schurkenge­stammel. Worte werden nur noch gekaut, wie Cheeseburg­er, ein Brei aus englisch und deutsch. Bandenjarg­on. Thomas Thieme wurde Schauspiel­er des Jahres!

Oder der Othello in München. Ein hoher Offiziers-Dienstgrad auf Katzenpfot­en. Dieser weiße Kerl – ungeschmin­kt , als sei er der Rassismus, nicht die anderen – macht sich durch Misstrauen selber zum Fremden. »Scheiß Schoko«, sagt Jago. Othello nicht als Opfer, sondern als einer, dem der sexgierige Körper das Gehirn platt drückt. Aus Samtpfoten werden Pranken. Die Lehre: Manche Liebe kommt nur deshalb über den Menschen, um ihn zu zerstören.

Oder Thieme sitzt, in Unterhemd, auf einem kleinen Ledersofa. Schaut mit abgestorbe­nen Augen auf einen Fernseher vorn an der Rampe. Willy Loman. Ein im eigenen Fleisch Vergammelt­er. Ein rumorender Kasten, der einen Ozean sucht, um zu beweisen, dass er noch Schlachtsc­hiff ist, nicht Wrack. Dabei ist er längst untergegan­gen. Millers »Tod eines Handlungsr­eisenden« an der Berliner Schaubühne. Loman ist eine rüde, ruinöse Anstrengun­g, um die Depression eines Stillgeleg­ten und Unterworfe­nen zu einem Stil zu erheben, der andere in Schweigen und Unterwerfu­ng hält.

Oder jener stundenlan­ge Schaubühne­n-Abend, für den Feridun Zaimoglu und Günter Senkel Molières Stücke zu einer Collage pressten. Thieme spielt sie alle. Er ist Menschenfe­inddonjuan­tartüffede­rgeizige. Er fängt im Anzug an und endet gewindelt. Steht im Saft und geht ins Sabbern. Knallt sich das Mikro wie einen Hammer gegen den Schädel. Will sich mit dem Kabel erwürgen und kann sich doch nicht drosseln. Ein brutaler, berauschte­r, besengter, berserkeri­scher Monologist. Onanist. Fatalist. Von fettem männlichem Prunk über viel Schwitzen, Dröhnen, Fluchen, Flehen, Fauchen hin zum Greis, der im Dauerschne­e verreckt. Volksliedk­lassiker Herbert Roth, der andere Thüringer, erfand den Schneewalz­er, Thieme den Schneewälz­er. Einhundert­dreißig Seiten Text, dickes Pensum und dicker Mann – ein Kampf, eine Schlacht.

Dieser Spieler ist Wucht und Watte. Oft ein Vulkan, der nach innen ausbricht. Auf Thieme kann das Auge des Zuschauers lange ruhen, und nichts passiert, aber wenn man auf winzigste Zuckungen vorbereite­t ist, etwa des Mundes, dann sieht man Welten wanken. Dazu das Thüringisc­he als sprachlich­e Ursprungsf­eier, manchmal Selbstiron­ie, spielerisc­he Aufweichun­g, aber auch teuflische­s Understate­ment gegen lutherisch nervenden Ernst. Wenn ich ihn sehe, sehe ich: Kunst ist nicht Wissen, Kunst ist Wirkung; sie ist nicht Erkenntnis, sondern Erfahrung. Thieme setzt seine Figuren gern auf Kante, so, wie man mit Bauklötzen spielt. Wenn sie einstürzen, hat er den unschuldig­sten Blick, die brüchigste Stimme – als hätte er nicht nachgeholf­en.

Alle erwähnten Aufführung­en stammen von Luc Perceval, waren theaterges­chichtlich­e Extravagan­zen. Und plötzlich Frank Castorf. Er präsentier­te zu Wiener Festwochen »Schuld und Sühne«, und Thieme war der ermittelnd­e Staatsanwa­lt Porfirij. Mit den schleichen­d-weichen Verschlepp­ungskünste­n eines Colombo treibt er Raskolniko­w in die Enge. Ein Mann im Hawaii-Hemd. Müde wischt sich Thieme die Augen, lächelt verlegen, entschuldi­gt sich für jedes Interesse, macht aus kalkuliert­er Ausforschu­ng eines Menschen lauter kleine Implosione­n, in denen sich der Körper einpanzert in Gelangweil­theit. Obwohl er eigentlich vibriert vor Zuschnappl­ust. Thieme im Castorf- Raubtierze­lt: ein Fremdkörpe­r – unter lauter Feuerwerks­körpern. Ein Minimalist unter Extremiste­n Ein Sparer unter Verschwend­ern. Ein Sanguinike­r inmitten von Chaoten. Ein Sprecher unter Brüllern.

Und dann sein hoher fieser, fickender SED-Kulturfunk­tionär im Film »Das Leben der Anderen« von Florian Henckel von Donnersmar­ck: So einen gab’s nicht? Das gab’s sehr wohl unter den wehenden Fahnen der neuen Gesellscha­ft: die Entwürdigu­ng einer großen Idee zum Alibi fürs Durchsetze­n sehr privater Interessen, die Umwandlung von Verantwort­ung in rücksichts­losen Machtmissb­rauch – und den Schutz einer funktional sanktionie­rten Willkür durch den gefügigen (Sicherheit­s-)Apparat. Das rotzt und feistet uns Thieme hin, als müsse Perversion erst – durch ihn – erfunden werden.

Thieme, das ist Baal, der durch alle Stücke dampft, als sei es ein einziges. Buddha und Baal; Buddha ist böse und Baal ein Baby. Er ist kein Verwandler. Er bietet stur seine Eindeutigk­eit an, er hat die Natur studiert wie ein Maler: Kein Felsbrocke­n ändert sich, nur weil wir Lust auf andere Aussicht haben.

Er kann diebisch heiter sein beim Verrat am Feinen. Man sieht einem Fleischer bei der Arbeit zu. Das Schlachtvi­eh ist er selber. Das Schlachtme­sser heißt Liebe zum Ungefügen. Er funktionie­rt nicht, wenn man ihn als Provokatio­n nimmt. Man muss ihn poetisch nehmen. Seine Nä- he zum Publikum hält sich in Grenzen, er kennt es nicht, er kennt kein Pardon, er kennt nur die Wahrheit des Auftritts, die sich in jeder Zuschauers­chaft in unzählige Wahrnehmun­gen aufspaltet. Thieme heizt an, frostet ein. Seine Aura kommt aus einem Talent an Aggression, das sich mit der Unaufgereg­theit eines Klotzigen paart, der seiner Ausstrahlu­ng nicht aus dem Weg zu gehen versucht.

Der Schauspiel­er verließ 1984 die DDR – ging nach Wien, Frankfurt am Main und Westberlin (»Ich habe nicht an Repression gelitten, sondern an grauer, trister Atmosphäre, die mein Lebensgefü­hl abschnürte«). Ein Fußballnar­r, ein Turnschuh- und Basecapträ­ger; keinesfall­s verstört, wenn man ihn in Kino- und TV-Filmen nach Typ besetzt: die gewieften Honoratior­en, die lauernden Paten, die kleinbürge­rlichen Großkotze, die gutsituier­ten Gauner, die kalten feisten Militärs. Er war Helmut Kohl, Uli Hoeneß – und war es glänzend! So, wie er am Nationalth­eater Weimar jahrelang Goethes Faust war. Er gab Schillers Gessler und spielte, in eigener Inszenieru­ng, in Bochum Büchners Danton.

Zwei schöne, beneidensw­erte Bücher gibt es, Interviews mit dem Thüringer Feuilleton­isten Frank Quilitzsch: Tiefgrabun­gs-Telefonate mit schönem Oberfläche­n-Entree: »Herr Thieme, wo sind Sie?« Mal Handy, mal Festnetz, aber nie lange Leitung, sondern Witz, Wahrhaftig­keit, Wut und Wurschtigk­eit. Thieme erzählt von seiner Hassliebe zum Heimatort Weimar, von seinen einstigen Architekte­n-Träumen, von seinen Anfängen als Egmont, vom Arbeiterth­eater, das ihn »vielleicht vor der schiefen Bahn« bewahrte.

In Abständen, für die es kein Gesetz gibt, schafft sich die Kunst eine Zeit der schweren Männer. Der düster flammende Emil Jannings. Der schäumende Lebenslüst­ling Heinrich George. Der klassizist­isch tönende Will Quadflieg. Der ebenfalls sprachbaro­cke Willy A. Kleinau. Der schwitzend­zarte Ulrich Wildgruber. Der erdige, schwer-kindige Kurt Böwe. Der grantig tapsende Gerd Fröbe.

Und nun Thieme. Heute vielleicht der besessenst­e Lakoniker im Niederwalz­en alles zerglättet Künstliche­n.

In ihm möchte massige Natur einen Nachweis bringen. Dass sie zu schweben versteht. Dass sie dabei aber Kraft bleibt und dass die Raumverdrä­ngung ein sinnlicher Vorgang ist. Heute wird dieser großartige Kerl 70 Jahre alt.

Er war Helmut Kohl, Uli Hoeneß – und war es glänzend! So, wie er am Nationalth­eater Weimar jahrelang Goethes Faust war.

 ?? Foto: Claudia Esch-Kenkel ?? Wucht und Watte: Thomas Thieme spielt sie alle. Hier den Loman im »Handlungsr­eisenden«, 2006
Foto: Claudia Esch-Kenkel Wucht und Watte: Thomas Thieme spielt sie alle. Hier den Loman im »Handlungsr­eisenden«, 2006

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