Macht Laune
Aus dem Flughafen Berlin-Tempelhof ist nach zehn Jahren ein einzigartiger Ort erwachsen
Berlins Ex-Flughafen Tempelhof ist eine Erfolgsgeschichte.
Vor zehn Jahren wurde der Flugbetrieb im Flughafen Tempelhof eingestellt. Das Flugfeld sollte bebaut werden, doch heute symbolisiert es Berlin als Stadt mehr als vieles andere. »Sssssiiiit«, surren die Speichen im Fahrtwind. Tief vornüber gebeugt rast ein Rennradler mit Helm und Fahrradtrikot vorbei, macht einen Schlenker um die Mutter mit Kinderwagen und ist bald im Grau, das tief über dem Tempelhofer Feld hängt, verschwunden. Ein paar Regentropfen schlagen auf sein Visier, das er mit dem Ärmel trocken wischt.
Tavati Omar aus Kreuzberg kommt eher gemächlich daher. Schwarzer Bart, unter der Mütze schaut dunkles, vom Wind zerzaustes Haar hervor. Er steht auf klassischen Rollerblades mit orangenen Gummi-Rollen. »Ich habe Probleme mit der Wirbelsäule«, sagt er und kneift seine Augen zusammen, während er die ehemalige Startbahn entlangschaut. »Sport tut mir gut.« Seit drei Jahren komme er auf das Tempelhofer Feld, mal spiele er Fußball, mal schaue er nur in die Sonne. »Der freie Blick ist das, was ich hier am meisten mag. Hier kann ich frei atmen«, sagt Omar.
Am 30. Oktober 2008 hoben die letzten Flugzeuge vom Flughafen Tempelhof ab. Bis auf drei, die damals den rechtzeitigen Abflug verpasst hatten und Wochen später per Ausnahmegenehmigung abheben durften. Damit waren 85 Jahre Flughafengeschichte vorbei und bei vielen blieb etwas Wehmut.
Schon der Bruder von Otto Lilienthal, Gustav, hatte hier Flugversuche unternommen, nachdem sein Bruder tödlich verunglückt war, und die Gebrüder Wright führten hier im Jahr 1909 Demonstrationsflüge durch. Der Flughafen gehörte, nicht zuletzt wegen der Luftbrücke, zum NachkriegsSelbstverständnis vieler Berliner.
An diesem Wochenendtag tummeln sich trotz der niedrigen Temperaturen und des Windes Hunderte auf dem Tempelhofer Feld. Die Freifläche ist ein Anziehungspunkt geworden für sportliche Aktivitäten vielerlei Art: Jogger, Walker, Drachenenthusiasten, Windskater oder nur Spaziergänger. Ein Experimentierfeld für ungewöhnliche Fortbewegungsarten, Gartenprojekte und Kunst – vor allem auf den Pionierflächen.
Marc Kolberg hat die Mütze ins Gesicht gezogen und rollt wippend vor und zurück. Er steht auf zwei Segway-Shoes, elektrisch angetrieben. Mit seinem E-Mobility-Verleih »Steck- dose-Berlin« ist er einer der sogenannten Pioniere des Tempelhofer Feldes, die auf den drei Pionierflächen des Areals aktiv sein dürfen. »Am Anfang war das für drei Jahre geplant, dann sollte hier ja der Neubau der Landesbibliothek hin. Seitdem wurde unser Vertrag jedes Jahr verlängert.« Ob Onewheel (elektrisches Einrad), Segway oder Elektro-Roller, wer will, kann die neuesten ElectroGadgets hier ausprobieren. »Alle reden nur über E-Autos, aber in solchen kleinen Elektrofahrzeugen, die man auch in die S-Bahn mitnehmen kann, sehe ich eine Zukunft«, so Kolberg. Allerdings hat er an eigenem Leib erfahren müssen, dass die Gerätschaften nicht im öffentlichen Verkehr, außerhalb der Projektfläche, zugelassen sind. »Ich bin schon zweimal erwischt worden. Wenn ich jetzt noch mal im Straßenverkehr mit meinem Onewheel erwischt werde, muss ich meinen Führerschein abgeben«, ärgert sich Kolberg. Mit seinen Segways hingegen darf er Touristen und Berliner ohne Einschränkungen über das Tempelhofer Feld und durch die Stadt führen. Sie gelten als Leichtkraftrad. »Das ist hier nach wie vor ein Provisorium. Wir haben noch nicht mal Strom«, so Kolberg. Aber so sei halt Berlin, ergänzt er.
Zwischennutzungen haben eine lange Tradition. Sie sorgten immer wieder in verlassenen Büros, Läden oder auf Gewerbeflächen für ausreichend Platz, damit neue Ideen und ungewöhnliche Konzepte sich ent- Jessica Meier, Nutzerin des Tempelhofer Feldes
wickeln können. Berlin wäre undenkbar ohne dieses Provisorische, Experimentelle und Nichtkommerzielle, das in Hinterhöfen, verlassenen Fabrikgebäuden oder eben auf den Pionierflächen des Feldes stattfinden. Doch längst zieht das ehemalige Fluggelände neben vielen Berli- nern auch Investoren an. Nach Daten von Immobilienscout24 stiegen die Mieten in den benachbarten Stadtteilen Tempelhof und Neukölln seit der Schließung schneller als im Durchschnitt der Stadt. Die Zone in der früheren Einflugschneise sei heute eine »absolute Top-Lage für Wohnimmobilien«, sagt der Datenanalyst des Unternehmens Michael Fränzel.
Das ärgert auch Jessica Meier, die an einer Drachenschnur zieht. »Berlin verändert sich«, sagt sie, »vielerorts gibt es nicht mehr das Berlin, wie es mal war. Aber hier auf dem Feld, kann man es noch spüren.« Jessica Meier ist an diesem Nachmittag mit zwei Freunden aus Charlottenburg hier. Sie haben einen großen Drachen dabei und einen kleinen selbstgebastelten Vierecks-Drachen. »Das ist mein erster selbstgebauter Drachen. Eigentlich wollten wir auf den Teufelsberg, aber dann haben wir uns für das Tempelhofer Feld entschieden. Hier können wir später noch Kuchen essen in der Nähe.« Das Besondere am Tempelhofer Feld? »Die Weite! Zentral in der Stadt. Das gibt es sonst nirgendwo.«
»Berlin verändert sich. Vielerorts gibt es nicht mehr das Berlin, wie es mal war. Aber hier auf dem Feld, kann man es noch spüren.«