Rechts überholt
Die »Japan Zuerst«-Partei setzt Premier Shinzo Abe zu.
Für mehr Wirtschaftswachstum will Japans ansonsten national denkender Premier Shinzo Abe ausländische Arbeitskräfte anwerben. In der Rechten, die bisher fest zu ihm hielt, wird Abe damit zum Problem. Dieses Land muss vorm Untergang stehen. »Hör auf, Japan kollabieren zu lassen!«, hallt es dieser Tage vermehrt durch die Straßen. Immer wieder protestieren Nationalisten, Mitte November in den Straßen von Ginza, dem noblen Shoppingviertel im Stadtzentrum von Tokio, landesweit berichteten die japanischen Medien. Garniert mit der ans Japanische Kaiserreich erinnernden Marineflagge und anderen nationalistisch genutzten Symbolen marschierte eine Hundertschaft gegen die Regierung, die ihnen längst zu liberal geworden ist. Was den Kollaps ihres Landes so wahrscheinlich mache, erklärte ein beliebtes Banner der Demonstranten: »Ausländer raus aus Japan!«
Die »Überbevölkerung« mit Fremden erscheint als seltsame Sorge in einem Land, in dem kaum zwei Prozent aller Einwohner Ausländer sind. Allerdings hat sich die Anzahl ausländischer Arbeitskräfte über die letzten sechs Jahre auf 1,2 Millionen fast verdoppelt. Und Premierminister Shinzo Abe, der vor fast genau sechs Jahren sein Amt antrat, hat vor kurzem noch erklärt, dass er diese Zahl weiter erhöhen will. Die Gegner einer solchen Öffnungspolitik, angeführt von der neugegründeten »Nihon Daiichito«, auf Deutsch: »Japan Zuerst Partei«, haben Abe dafür den Krieg erklärt.
Für den Premier ist dies eine neue Erfahrung: er hat nun Gegner in der politischen Rechten. Diejenigen, die mit dem seit Jahrzehnten mächtigsten japanischen Premier nicht einverstanden sind, kamen bisher aus anderen Lagern. Linke kritisieren die arbeitgeberfreundliche Wirtschaftspolitik, die trotz steigender Unternehmensgewinne nicht zu einem Anstieg der Reallöhne führt. Libera- le führen einen Kampf gegen den Premier, weil dieser den kriegsverneinenden Artikel 9 der Verfassung abschaffen oder wenigstens abändern will, so dass Japan im Ernstfall wieder in den Krieg ziehen könnte. So war die Ordnung bisher klar: Wer außerhalb der eigenen Reihen gegen Abe ist, der kann nicht rechts sein.
Das ist nun vorbei. Und der Grund, wie in diversen anderen Ländern auch, ist das Thema Immigration. »Bevor Ausländer reingelassen werden, sollten Sie an Japans Arbeitslose denken!«, forderte Mikio Okamura, der Vorsitzende von Nihon Daiichito in Tokio, von seinem Premierminister. Zwar ist die Partei bisher in keinem Parlament vertreten, ihr Gründer gewann bei der letzten Tokioter Gouverneurswahl 2016 gerade zwei Prozent der Stimmen.
Aber was die Frage der Immigrationspolitik angeht, haben Gruppen wie Nihon Daiichito viele potenzielle Unterstützer. Laut Umfragen steht rund die Hälfte der Japaner einer gelockerten Immigrationspolitik skeptisch gegenüber. Weil die etablierten Parteien dies genau wissen, ziehen sie auch nicht mit Konzepten für eine Öffnung in den Wahlkampf. Mit dem Vorstoß des Premiers könnte nun aber, wie in Deutschland und anderswo, auch in Japan eine politische Strömung erstarken, die rechts von einer schon konservativen Regierung den Diskurs mitbestimmt.
Wer nur auf statistische Kennzahlen schaut, kann sich die Vorbehalte gegen Einwanderung kaum erklären. Japans Geburtenrate ist so gering, dass die Bevölkerung seit 2005 schrumpft und zuletzt jährlich um die 300 Schulen geschlossen haben. Die Arbeitsbevölkerung nimmt schon seit zwei Jahrzehnten ab. Laut der japanischen Handelskammer leiden zwei Drittel aller Betriebe im Land unter Arbeitskräftemangel. Eine Anhebung des Pensionsantrittsalters sowie Anreize für eine höhere Frauenerwerbsquote sind auf den Weg gebracht, werden die Engpässe aber nicht begleichen können. Es fehlt an Pflegern, die den Älteren und Ge- brechlicheren der 35 Millionen Senioren unter die Arme greifen können. Auch Bauarbeiter werden dringend gesucht, aber kaum gefunden. Ebenso Mechaniker, Ingenieure, und andere technisch Ausgebildete.
So greift die einfache Formel von rechten Populisten wie Mikio Okamura, die vakanten Jobs einfach an japanische Arbeitslose zu verteilen, schon zahlenmäßig zu kurz. Das größte Problem am japanischen Arbeitsmarkt ist ohnehin nicht die Arbeitslosenrate von weniger als drei Prozent, sondern der hohe Anteil prekärer Arbeitsplätze, der mittlerweile rund 40 Prozent aller Jobs beträgt. Okamura versicherte seiner Gefolgschaft in Ginza dennoch: Bekämen die Arbeitslosen diese Stellen, »dann hätten wir genügend Arbeitskräfte, um für die Senioren unseres Landes zu sorgen. Das wäre die glücklichste Lösung für die Japaner und auch für die Ausländer.«
Die Gegner meinen zu wissen, dass es mit den Fremden nicht funktionieren kann. Schon einmal hat Japan versucht, der Alterung der Gesellschaft mit Einwanderung zu begegnen. Um die Jahrtausendwende, als die demografische Entwicklung zum Mainstreamthema wurde, begann die Regierung, japanischstämmige Personen aus Brasilien und Peru für einfache Jobs anzuwerben, die kaum noch ein Japaner erledigen wollte. Bis 2004 kamen unter dem Programm knapp 300 000 Arbeiter ins Land. Doch es mangelte an Integrationsprogrammen, Nachbarn beschwerten sich über laute Musik der Latinos, Medien machten Stim- mung gegen die am Ende doch Fremden. Ab 2009 bot die Regierung den Halbjapanern ein One-Way-Ticket aus dem Land an, unter der Bedingung, in Zukunft keine Arbeit mehr in Japan zu suchen.
Der Vorbehalt gegen zu viel Diversität ist aber nicht vor allem arbeitsmarktpolitisch begründet, sondern kulturell. Viele Japaner, vor allem unter den Älteren, sehen ihre Lebensweise bedroht. In Medien wird regelmäßig über Straftaten von Ausländern berichtet, auch wenn die meisten Regelbrüche von Inländern begangen werden. Ohnehin gilt das Ausland, insbesondere für Japaner ohne Auslandserfahrung, als tendenziell gefährlich. Die Heimat empfinden viele Menschen dagegen auch deshalb als sicher und friedlich, weil die Leute das gleiche Wertegerüst hätten, die Gesellschaft sei homogen.
In den Augen von Abes rechten Kritikern steht diese japanische Besonderheit nun auf der Kippe, obwohl das Konzept des Premiers ohnehin höchst restriktiv ist. Im Kern zählt das Vorhaben als Element der »Abenomics« genannten Strategie, durch lockere Geldpolitik, stimulierende Staatsausgaben und wachstumsfördernde Strukturreformen einen ökonomischen Aufschwung zu erzeugen. Der Öffentlichkeit erklärte Abe deshalb zuletzt: »Mein Kabinett hat keine Absicht, eine so genannte Immigrationspolitik anzunehmen. Dieser Linie bleiben wir treu.« Es gehe bloß um Gastarbeiter, die einige Jahre im Land bleiben und am Ende wieder gehen. »Die Bedingungen sind eine Obergrenze des Aufenthalts und eine grundsätzliche Ablehnung, dass Familien die Arbeiter begleiten.«
Der Anteil nicht-japanischer Einwohner von knapp zwei Prozent ist zwar historisch hoch, vor 30 Jahren war der Wert noch bei der Hälfte. Allerdings hatten in Deutschland schon vor der Einwanderungswelle ab 2015 rund neun Prozent der Einwohner keinen deutschen Pass. In den USA ist jeder Fünfte Ausländer, in der Schweiz gar jeder Vierte. Denn in Japan machen strenge Regeln und ho- he Standards die Einwanderung für Viele schwierig oder unmöglich.
Und was geschriebene Regeln eigentlich zulassen müssten, wird durch Behörden oft trotzdem verwehrt, zum Beispiel im Umgang mit Flüchtlingen. So hat Japan zwar die Genfer Konvention unterschrieben, die jedes Land verpflichtet, verfolgte Menschen aufzunehmen. Doch 2017 wurden von 19 628 Asylansuchen in Japan nur 20 genehmigt. Die Quote ist damit im Vergleich zu 2013 noch einmal gefallen, als von 3260 Anträgen sechs bewilligt wurden. Die Bürokratie rechtfertigt ihre Strenge damit, dass die meisten Geflüchteten bei ihrer Ankunft nicht beweisen können, dass sie daheim verfolgt werden. So eine grundsätzliche Ungewissheit wird von anderen Ländern kulanter gelöst.
In dieser Sache ist Shinzo Abe, der nun Vielen als zu liberal gilt, seinen Kritikern vor drei Jahren zuvorgekommen. Damals verkündete er, dass zunächst das Leben der Japaner verbessert werden müsste, ehe das Land Leute aus Syrien aufnehmen könnte. So ein nationales Denken ist durchaus mehrheitsfähig. Deutschlands Aufnahme von Flüchtlingen ab 2015 wurde in Japan von vielen Seiten vor allem als Sicherheitsbedrohung gesehen. Im japanischen Alltag ist durchaus auch mal ein Satz zu hören wie: »Ich mag keine Ausländer.« In Tokio prangt an den Eingängen einiger Restaurants die Aufschrift: »Japanese only«, wohlbemerkt an Ausländer gerichtet, verständlich auf Englisch.
In weniger als zwei Jahren, wenn die Olympischen Spiele nach Tokio kommen, will Japan der ganzen Welt seine Fortschrittlichkeit und Weltoffenheit demonstrieren. Aber nicht bloß Flüchtlinge, sondern auch Gastarbeiter, die dem Land unmittelbar nützen würden, stellen die Gesellschaft nun vor politische Probleme. »Manaa ga nai«, heißt es nicht selten über Fremde, was übersetzt bedeutet: »Die haben keine Manieren.« Dabei kommt »manaa«, der Begriff für Manieren, nicht ursprünglich aus der japanischen Sprache. Er ist ein Lehnwort aus dem Englischen.
Japans Geburtenrate ist so gering, dass die Bevölkerung seit 2005 schrumpft und zuletzt jährlich um die 300 Schulen geschlossen haben.