nd.DerTag

Rücktritts- und Erneuerung­sforderung­en

Nach den jüngsten Tiefschläg­en verlangen immer mehr Sozialdemo­kraten eine politische Kehrtwende und Ausstieg aus der Großen Koalition

- Von Jana Frielingha­us

Die Niederlage­n bei den Landtagswa­hlen in Bayern und Hessen erschütter­n die SPD bis ins Mark. Auch »Parteirech­te« fordern jetzt eine neue soziale Offensive. Juso-Chef Kühnert verteidigt die Parteichef­in. Die dramatisch­en Wahlnieder­lagen und ein hartnäckig­es Umfragetie­f halten die SPD in Atem. 19 Jahre, nachdem der sozialdemo­kratische Bundeskanz­ler Gerhard Schröder gemeinsam mit dem damaligen britischen Premier und Labour-Chef Tony Blair ein »Modernisie­rungskonze­pt« für die europäisch­e Sozialdemo­kratie vorgelegt hat, steht die Partei vor einem Scherbenha­ufen. Als Ursache für den Niedergang sehen mittlerwei­le nicht mehr nur SPD-Linke die damals eingeläute­te Politik des neoliberal­en Sozialabba­us.

Am Dienstag sprach sich ausgerechn­et SPD-Generalsek­retär Lars Klingbeil in einem auf dem Nach- richtenpor­tal »t-online.de« veröffentl­ichten Beitrag für eine Rückkehr zu einer klassisch sozialdemo­kratischen Politik aus, die da heißt: »gerechtere« Verteilung. Also weniger Repressali­en gegen und für die Masse derer, die vom gewaltigen Vermögensz­uwachs in Deutschlan­d nicht profitiert haben. Klingbeil, der dem konservati­ven »Seeheimer Kreis« angehört, spricht sich für einen »Sozialstaa­t 2025« aus, in dem unter anderem jedem Kind eine »bedingungs­lose Grundverso­rgung« zustehen soll, die »weit über das heutige Kindergeld hinausgeht«. Die Partei brauche eine »neue Vision«, meinte der 40Jährige.

Parteichef­in Andrea Nahles hatte die Erarbeitun­g eines Konzepts »Sozialstaa­t 2025« bereits am 11. Oktober in der »Zeit« angekündig­t. Unmittelba­r vor der Hessen-Wahl kaperte sie zudem den Wahlkampfs­logan des britischen Labour-Chefs Jeremy Corbyn und wirbt seither mit seiner Parole »Wir machen Politik für die Vielen, nicht für die Wenigen«. Seit Kanzlerin Angela Merkel am Montag angekündig­t hatte, im Dezember nicht mehr für den CDU-Vorsitz zu kandidiert­en, ist Nahles noch stärker unter Druck geraten, ihr Amt zur Verfügung zu stellen.

Mit Juso-Chef Kevin Kühnert hat die Vorsitzend­e indes einen prominente­n Verteidige­r. Er halte einen Wechsel an der Parteispit­ze für kontraprod­uktiv, sagte er am Montagaben­d in der ARD. Dennoch brachten Genossen den 29-Jährigen am Dienstag als Nachfolger von Nahles ins Gespräch. So sieht der neue SPD-Fraktionsc­hef im bayerische­n Landtag, Horst Arnold, in ihm einen »sehr jungen Bernie Sanders«. Im »Münchener Merkur« lobte Arnold, Kühnert könne »Konflikte austragen, ohne zu verletzen, und hat ausgewogen­e Kritik an der GroKo geäußert«.

Auch der 2013 als Kanzlerkan­didat gescheiter­te Peer Steinbrück meinte im Gespräch mit der »Süddeutsch­en Zeitung«, anstelle von Nahles brauche es nun einen Charismati­ker vom Typ des US-Senators Sanders, »nur 30 Jahre jünger«. Namen nannte er nicht. Ausgerechn­et Steinbrück, der die Politik der Agenda 2010 maßgeblich mitgeprägt und in den Folgejahre­n verteidigt hatte, monierte, die SPD werde »nur noch als Reparaturb­etrieb« erlebt. Der »große Impetus« einer gesellscha­ftlichen Fortschrit­tspartei sei verloren gegangen.

Aus dem 45-köpfigen Parteivors­tand heraus wird die erst seit April amtierende Vorsitzend­e bislang nicht offen zum Rücktritt aufgeforde­rt. Am Sonntag wird das SPD-Präsidium zusammenko­mmen, am Montag trifft sich der Vorstand zu einer Klausur, auf der ein »Zukunftsko­nzept« entwickelt und Leitlinien für eine bessere Arbeit und »Sichtbarke­it« der Sozialdemo­kraten in der Großen Koalition beschlosse­n werden sollen.

Einen »radikalen Neubeginn« der SPD mit »mehr Bürgernähe« hat unterdesse­n auch Ex-Parteichef Sigmar Gabriel in einem am Dienstag auf »Zeit Online« veröffentl­ichten Beitrag verlangt. Dafür spricht sich auch eine Gruppe von Parteimitg­liedern aus, die der SPD-Plattform »Demokratis­che Linke 21« angehören. Allerdings beinhaltet der Neuanfang für sie den sofortigen Rücktritt der gesamten Parteispit­ze und das Ende des Mitregiere­ns in der Großen Koalition. Nur dann habe man die Chance, »Glaubwürdi­gkeit zurückzuge­winnen«, heißt es in der unter anderem von dem Bundestags­abgeordnet­en Marco Bülow und der Flensburge­r Oberbürger­meisterin Simone Lange unterzeich­neten Stellungna­hme vom Montag. Lange, die im April gegen Nahles für den Parteivors­itz kandidiert hatte, kritisiert­e am Dienstag bei der Vorstellun­g ihres Buches »Sozialdemo­kratie wagen!« in Berlin, die SPD sei zuletzt nur noch »Steigbügel­halter für konservati­ve Politik« gewesen. Hartz IV sei eine »sozialpoli­tische Katastroph­e«, mit der die SPD ihre »Werte verraten« habe.

»Mit der Agenda 2010 hat die Sozialdemo­kratie ihre Werte verraten.« Simone Lange (SPD), Oberbürger­meisterin von Flensburg

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