Abenteuer oder Absturz
Die Online-Welt zieht Heranwachsende magisch an, aber nicht immer bleibt die Nutzung unter Kontrolle
Ab wann ist Internetnutzung ein Problem? Wie viele Stunden täglich am Computer sind in Ordnung? Solche Fragen stellen viele Eltern, einfache Antworten gibt es nicht. Die virtuelle Welt wächst stetig. Längst ist das Angebot unüberschaubar: globale Kommunikation, Rollenspiele in Fantasiewelten, Videos, Gemeinschaften mit Hunderten Freunden. Immer mehr Eltern klagen: »Mein Kind verbringt die meiste Zeit vor dem Computer.«
Die Sozialpädagogin Carola Hoffmann Alves von der Caritas weiß, wie sehr die digitale Medienwelt verunsichern kann. Der Verband baut ein Programm zur Suchtprävention im Bereich Mediennutzung auf. »Die meisten Eltern heute haben keine eigenen vergleichbaren Kindheitserfahrungen«, sagt Carola Hoffmann Alves. »Damals gab es keine Computerspiele mit Suchtpotential. Mütter und Väter wissen nicht, wie ihre eigenen Eltern sie diesbezüglich erzogen hätten.«
Manche Eltern haben den Eindruck, ihnen entgleite ihr erzieherischer Einfluss, weil ihre Kinder immer mehr Zeit vor dem Bildschirm verbringen. »Diese Sorge ist verständlich«, meint der Fachbereichsleiter der Sucht- und Drogenhilfe der Caritas, Peter Köching. »Manchmal brauchen die Eltern Unterstützung, um ihre pädagogische Kompetenz zu stärken.«
Auch deshalb bieten zunehmend mehr Organisationen Hilfsangebote zum Thema Internetabhängigkeit an. Nicht immer sind es die verführerischen Angebote der Onlinewelt, die verantwortlich sind für ein Suchtproblem. »Manchmal wird im Gespräch mit den Jugendlichen auch deutlich, dass es ganz andere Gründe gibt, weshalb sie sich zurückziehen und isolieren.« Peter Köching erlebt oft, dass sich Kinder eigentlich nach mehr Aufmerksamkeit ihrer Eltern sehnen. Andere werden in der Schule gemobbt. »Solche Erfahrungen können die Entstehung einer Abhängigkeitsstörung begünstigen.«
Heutzutage ist die Mediennutzung in viele Familien das Streitthema Nummer eins. Darunter leiden vor allem die Eltern. Trotzdem rät Carola Hoffmann Alves zu Gelassenheit: »Jugendliche neigen dazu, sich extrem für Dinge zu begeistern, Grenzen zu testen, neue Identitäten auszuprobieren. Das alles können sie in der virtuellen Welt wunderbar tun und sich phasenweise auch mal exzessiv in ihr verlieren. Das ist natürlich besonders attraktiv, wenn die Eltern keinen Einblick haben. So ler- nen Jugendliche in der virtuellen Welt, ihren eigenen Raum zu erobern und sich von den Eltern abzugrenzen.«
Um die Atmosphäre innerhalb der Familie zu verbessern, kann es hilfreich sein, wenn Eltern Interesse an den Aktivitäten ihrer Kinder im Netz zeigen. »Viele wissen fast nichts über die Inhalte, mit denen sich die Kinder beschäftigen, welche Seiten sie nutzen. Manche Erwachsene fühlen sich abgehängt. Wir motivieren sie, ihre Kinder auch mal zu fragen: ›Was begeistert dich so?‹ Vielleicht lernen sie so die Faszination dieser Welt ein bisschen verstehen und werden auch sensibler dafür, was ihre Kinder suchen und brauchen.«
Ab wann ist Internetnutzung ein Problem? Wie viele Stunden täglich am Computer sind noch in Ordnung? Solche Fragen stellen viele Eltern, aber Peter Köching hat keine eindeutigen Antworten. »Wichtiger ist es, das Verhalten zu beobachten. Zieht sich jemand zurück und isoliert sich von den anderen? Verwahrlost da jemand? Werden Leistungen in der Schule schlechter? So was lässt aufhorchen. Trotzdem sagen wir immer wieder, dass gerade bei Jugendlichen oder jungen Erwachsenen auch extreme Formen des Rückzugs noch normal sind. Was bei einem Erwachsenen schon deutliche Abhängigkeitshinweise wären, sind bei Ju- gendlichen womöglich noch typische Eigenheiten dieser Lebensphase.«
Jugendliche sollten lernen, mit einem maßvollen und gesunden Mediennutzungsverhalten durchs Leben zu gehen. Das ist den Söhnen des Filmemachers Hansjörg Thurn nicht gelungen. Heute wünscht sich der Drehbuchautor und Regisseur, er hätte schon vor Jahren Beratungsangebote in Anspruch genommen. Damals drehte er erfolgreich Filme fürs Fernsehen, während seine Zwil- linge immer tiefer in die digitale Welt abtauchten. »Als sie 13, 14 Jahre alt waren, habe ich selbst ihnen den Computer nahe gebracht«, erinnert sich Hansjörg Thurn mit schlechtem Gewissen. »Ich dachte, es wäre doch schön, wenn meine Söhne ähnliches erleben könnten, wie ich bei der Produktion eines Films: tanzende Bilder, fliegende Welten und tolle Geschichten. Deshalb habe ich ihnen Computerspiele gekauft. Kurz vor dem Abi- tur haben sie dann Onlinespiele entdeckt und sind da massiv eingestiegen.«
Anfangs freute sich Hansjörg Thurn, dass seine Jungs eine neue Leidenschaft entwickelt hatten. Doch schon bald begann er, sich Sorgen zu machen. »Ich merkte, dass da was nicht mehr normal war. Sie verloren den Bezug zu ihrer Umgebung, zur Schule, zur Berufsausbildung. Das alles funktionierte nicht mehr, weil die beiden mit fünfzehn Freunden Tag und Nacht in Onlinespielen wie World of Warcraft lebten.«
Eine solche Computerspielsucht stellt die Zukunft der Betroffenen in Frage, warnt Carola Hoffmann Alves: »Junge Erwachsene in der Ausbildung, im Studium, die sich in der virtuellen Welt verlieren, riskieren ihr soziales Leben und die berufliche Zukunft. Manche erkennen, dass sie die Kontrolle über ihr Nutzungsverhalten verloren haben. Vielleicht starten sie Versuche, die Zeit am Computer zu reduzieren, schaffen es aber nicht. Offline gelingt es ihnen nicht, sich auf das zu konzentrieren, was ihnen eigentlich wichtig sein sollte. In ihren Gedanken bewegen sie sich immer wieder in der Spielwelt. Im Grunde möchten sie nichts lieber, als zurück an den PC.«
Dieses Stadium haben Thurns Söhne längst überschritten. »Sie sind jetzt Mitte zwanzig und haben wirk- lich Schwierigkeiten, ins Leben zu kommen. Sie sind nicht eigenverantwortlich und finden keinen beruflichen Stand. Das hat vor allem damit zu tun, dass diese schöne neue Welt der Medien so verführerisch ist.«
Über Kontakte seiner Söhne hat Hansjörg Thurn viele andere junge Menschen kennengelernt, die eigentlich ein privilegiertes Leben mit vielfältigen Entfaltungsmöglichkeiten führen könnten. »Aber sie haben sich im Cyberspace verloren. Das sind ganz erstaunliche, erschütternde Schicksale. Sie finden nicht mehr zurück ins Leben. Zwar merken sie irgendwann, dass ihnen der ständige Medienkonsum nicht gut tut, aber der Schritt zurück ist so schwer wie bei jeder Sucht.«
Ab einem bestimmten Punkt helfen ambulante Angebote nicht mehr. Dann ist es womöglich Zeit für eine stationäre Therapie. Die Chancen, dass eine Fachklinik helfen kann, stehen gut. Auch Hansjörg Thurn hat die Hoffnung nicht aufgegeben, dass seine Söhne eines Tages ihren Weg zurück in die Gesellschaft finden werden. Zur Zeit aber sind sie noch weit davon entfernt: »Sie leben jetzt zusammen mit vielen Computerzockern, die meiner Ansicht nach alle schwer abgestürzt sind. Früher ahnte ich nicht, dass es so was gibt, diese Schattenseite der schönen bunten Welt der Computerspiele.«
Heutzutage ist die Mediennutzung in vielen Familien das Streitthema Nummer eins. Darunter leiden vor allem die Eltern.