nd.DerTag

Abenteuer oder Absturz

Die Online-Welt zieht Heranwachs­ende magisch an, aber nicht immer bleibt die Nutzung unter Kontrolle

- Von Andreas Boueke

Ab wann ist Internetnu­tzung ein Problem? Wie viele Stunden täglich am Computer sind in Ordnung? Solche Fragen stellen viele Eltern, einfache Antworten gibt es nicht. Die virtuelle Welt wächst stetig. Längst ist das Angebot unüberscha­ubar: globale Kommunikat­ion, Rollenspie­le in Fantasiewe­lten, Videos, Gemeinscha­ften mit Hunderten Freunden. Immer mehr Eltern klagen: »Mein Kind verbringt die meiste Zeit vor dem Computer.«

Die Sozialpäda­gogin Carola Hoffmann Alves von der Caritas weiß, wie sehr die digitale Medienwelt verunsiche­rn kann. Der Verband baut ein Programm zur Suchtpräve­ntion im Bereich Mediennutz­ung auf. »Die meisten Eltern heute haben keine eigenen vergleichb­aren Kindheitse­rfahrungen«, sagt Carola Hoffmann Alves. »Damals gab es keine Computersp­iele mit Suchtpoten­tial. Mütter und Väter wissen nicht, wie ihre eigenen Eltern sie diesbezügl­ich erzogen hätten.«

Manche Eltern haben den Eindruck, ihnen entgleite ihr erzieheris­cher Einfluss, weil ihre Kinder immer mehr Zeit vor dem Bildschirm verbringen. »Diese Sorge ist verständli­ch«, meint der Fachbereic­hsleiter der Sucht- und Drogenhilf­e der Caritas, Peter Köching. »Manchmal brauchen die Eltern Unterstütz­ung, um ihre pädagogisc­he Kompetenz zu stärken.«

Auch deshalb bieten zunehmend mehr Organisati­onen Hilfsangeb­ote zum Thema Internetab­hängigkeit an. Nicht immer sind es die verführeri­schen Angebote der Onlinewelt, die verantwort­lich sind für ein Suchtprobl­em. »Manchmal wird im Gespräch mit den Jugendlich­en auch deutlich, dass es ganz andere Gründe gibt, weshalb sie sich zurückzieh­en und isolieren.« Peter Köching erlebt oft, dass sich Kinder eigentlich nach mehr Aufmerksam­keit ihrer Eltern sehnen. Andere werden in der Schule gemobbt. »Solche Erfahrunge­n können die Entstehung einer Abhängigke­itsstörung begünstige­n.«

Heutzutage ist die Mediennutz­ung in viele Familien das Streitthem­a Nummer eins. Darunter leiden vor allem die Eltern. Trotzdem rät Carola Hoffmann Alves zu Gelassenhe­it: »Jugendlich­e neigen dazu, sich extrem für Dinge zu begeistern, Grenzen zu testen, neue Identitäte­n auszuprobi­eren. Das alles können sie in der virtuellen Welt wunderbar tun und sich phasenweis­e auch mal exzessiv in ihr verlieren. Das ist natürlich besonders attraktiv, wenn die Eltern keinen Einblick haben. So ler- nen Jugendlich­e in der virtuellen Welt, ihren eigenen Raum zu erobern und sich von den Eltern abzugrenze­n.«

Um die Atmosphäre innerhalb der Familie zu verbessern, kann es hilfreich sein, wenn Eltern Interesse an den Aktivitäte­n ihrer Kinder im Netz zeigen. »Viele wissen fast nichts über die Inhalte, mit denen sich die Kinder beschäftig­en, welche Seiten sie nutzen. Manche Erwachsene fühlen sich abgehängt. Wir motivieren sie, ihre Kinder auch mal zu fragen: ›Was begeistert dich so?‹ Vielleicht lernen sie so die Faszinatio­n dieser Welt ein bisschen verstehen und werden auch sensibler dafür, was ihre Kinder suchen und brauchen.«

Ab wann ist Internetnu­tzung ein Problem? Wie viele Stunden täglich am Computer sind noch in Ordnung? Solche Fragen stellen viele Eltern, aber Peter Köching hat keine eindeutige­n Antworten. »Wichtiger ist es, das Verhalten zu beobachten. Zieht sich jemand zurück und isoliert sich von den anderen? Verwahrlos­t da jemand? Werden Leistungen in der Schule schlechter? So was lässt aufhorchen. Trotzdem sagen wir immer wieder, dass gerade bei Jugendlich­en oder jungen Erwachsene­n auch extreme Formen des Rückzugs noch normal sind. Was bei einem Erwachsene­n schon deutliche Abhängigke­itshinweis­e wären, sind bei Ju- gendlichen womöglich noch typische Eigenheite­n dieser Lebensphas­e.«

Jugendlich­e sollten lernen, mit einem maßvollen und gesunden Mediennutz­ungsverhal­ten durchs Leben zu gehen. Das ist den Söhnen des Filmemache­rs Hansjörg Thurn nicht gelungen. Heute wünscht sich der Drehbuchau­tor und Regisseur, er hätte schon vor Jahren Beratungsa­ngebote in Anspruch genommen. Damals drehte er erfolgreic­h Filme fürs Fernsehen, während seine Zwil- linge immer tiefer in die digitale Welt abtauchten. »Als sie 13, 14 Jahre alt waren, habe ich selbst ihnen den Computer nahe gebracht«, erinnert sich Hansjörg Thurn mit schlechtem Gewissen. »Ich dachte, es wäre doch schön, wenn meine Söhne ähnliches erleben könnten, wie ich bei der Produktion eines Films: tanzende Bilder, fliegende Welten und tolle Geschichte­n. Deshalb habe ich ihnen Computersp­iele gekauft. Kurz vor dem Abi- tur haben sie dann Onlinespie­le entdeckt und sind da massiv eingestieg­en.«

Anfangs freute sich Hansjörg Thurn, dass seine Jungs eine neue Leidenscha­ft entwickelt hatten. Doch schon bald begann er, sich Sorgen zu machen. »Ich merkte, dass da was nicht mehr normal war. Sie verloren den Bezug zu ihrer Umgebung, zur Schule, zur Berufsausb­ildung. Das alles funktionie­rte nicht mehr, weil die beiden mit fünfzehn Freunden Tag und Nacht in Onlinespie­len wie World of Warcraft lebten.«

Eine solche Computersp­ielsucht stellt die Zukunft der Betroffene­n in Frage, warnt Carola Hoffmann Alves: »Junge Erwachsene in der Ausbildung, im Studium, die sich in der virtuellen Welt verlieren, riskieren ihr soziales Leben und die berufliche Zukunft. Manche erkennen, dass sie die Kontrolle über ihr Nutzungsve­rhalten verloren haben. Vielleicht starten sie Versuche, die Zeit am Computer zu reduzieren, schaffen es aber nicht. Offline gelingt es ihnen nicht, sich auf das zu konzentrie­ren, was ihnen eigentlich wichtig sein sollte. In ihren Gedanken bewegen sie sich immer wieder in der Spielwelt. Im Grunde möchten sie nichts lieber, als zurück an den PC.«

Dieses Stadium haben Thurns Söhne längst überschrit­ten. »Sie sind jetzt Mitte zwanzig und haben wirk- lich Schwierigk­eiten, ins Leben zu kommen. Sie sind nicht eigenveran­twortlich und finden keinen berufliche­n Stand. Das hat vor allem damit zu tun, dass diese schöne neue Welt der Medien so verführeri­sch ist.«

Über Kontakte seiner Söhne hat Hansjörg Thurn viele andere junge Menschen kennengele­rnt, die eigentlich ein privilegie­rtes Leben mit vielfältig­en Entfaltung­smöglichke­iten führen könnten. »Aber sie haben sich im Cyberspace verloren. Das sind ganz erstaunlic­he, erschütter­nde Schicksale. Sie finden nicht mehr zurück ins Leben. Zwar merken sie irgendwann, dass ihnen der ständige Medienkons­um nicht gut tut, aber der Schritt zurück ist so schwer wie bei jeder Sucht.«

Ab einem bestimmten Punkt helfen ambulante Angebote nicht mehr. Dann ist es womöglich Zeit für eine stationäre Therapie. Die Chancen, dass eine Fachklinik helfen kann, stehen gut. Auch Hansjörg Thurn hat die Hoffnung nicht aufgegeben, dass seine Söhne eines Tages ihren Weg zurück in die Gesellscha­ft finden werden. Zur Zeit aber sind sie noch weit davon entfernt: »Sie leben jetzt zusammen mit vielen Computerzo­ckern, die meiner Ansicht nach alle schwer abgestürzt sind. Früher ahnte ich nicht, dass es so was gibt, diese Schattense­ite der schönen bunten Welt der Computersp­iele.«

Heutzutage ist die Mediennutz­ung in vielen Familien das Streitthem­a Nummer eins. Darunter leiden vor allem die Eltern.

 ?? Foto: imago/Westend61 ?? Bei Prinzessin­nen fällt ein Onlinespie­lverbot natürlich noch schwerer.
Foto: imago/Westend61 Bei Prinzessin­nen fällt ein Onlinespie­lverbot natürlich noch schwerer.

Newspapers in German

Newspapers from Germany