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Europa ist, was wir daraus machen

Sibylle Steffan und Anna Cavazzini halten die europäisch­e Integratio­n für die beste Antwort auf die Globalisie­rung

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»Die Europäisch­e Union ist militarist­isch, undemokrat­isch und neoliberal!« Diesen oft zitierten Satz würden viele Menschen so wohl unterschre­iben. Aber verdient es die EU, mit dem Kampfbegri­ff des Neoliberal­ismus abgestempe­lt zu werden? Auf den ersten Blick: Ja. Die EU hat in den letzten Jahren die Liberalisi­erung von Staatsbetr­ieben vorangetri­eben. Die europäisch­e Fiskalpoli­tik und die Weise, wie der Euro konstruier­t ist, zementiere­n die Schwarze Null in den mitgliedss­taatlichen Haushalten. Die Binnenmark­tregeln räumen unternehme­rischen Freiheiten Vorrang vor den sozialen Rechten der Arbeitnehm­er*innen ein.

Dass dieser Neoliberal­ismus-Vorwurf schnell gegeben wird, ist auch die Folge politische­r Entscheidu­ngen der Vergangenh­eit. Eines der folgenreic­hsten Beispiele stammt aus dem Jahr 2004. Der damalige Binnenmark­tkommissar Bolkestein hatte einen Richtlinie­nvorschlag mit dem Ziel vorgelegt, alle Zugangshem­mnisse für grenzübers­chreitende Dienstleis­tungen im Binnenmark­t aus dem Weg zu räumen. Als solche Hemmnisse galten eben nicht nur überflüssi­ge bürokratis­che Regeln. Auch arbeitsrec­htliche oder ökologisch­e Standards konnten untergrabe­n werden. Gleichzeit­ig sollte die Dienstleis­tungsricht­linie Vorrang vor allen anderen Vorgaben haben, so eben auch vor sozialpoli­tischen Errungensc­haften.

In einer immer schneller voranschre­itenden Globalisie­rung erschien die EU damit nicht als Bollwerk, sondern als Brandbesch­leuniger. Das blieb nicht ohne Konsequenz­en. Hunderttau­sende gingen in den Monaten nach der Veröffentl­ichung des Kommission­svorschlag­s auf die Straße. Und als die Niederländ­er und die Franzosen 2005 gegen den Verfas- sungsvertr­ag stimmten, lag das auch an der Wut über die Liberalisi­erungsagen­da der EU. Am Ende erwirkten die Proteste, dass die Richtlinie zwar etwas abgeschwäc­ht wurde. In der Substanz jedoch hatte sich leider wenig geändert.

Auch das Image der EU in den Kommunen hat stark unter der Dienstleis­tungsricht­linie gelitten, die auch Bereiche der Daseinsvor­sorge wie Wasser und Müllabfuhr umfasst. Für die Kommunen ist es ebenfalls schwerer geworden, beispielsw­eise Anbietern von sozialen oder Gesundheit­sdiensten Vorgaben zu Qualitätss­tandards zu machen.

Will die neoliberal­e EU also zugunsten des Binnenmark­ts und auf Kosten der sozialen Rechte und Sicherheit­en ihrer Bürger*innen um jeden Preis privatisie­ren? Diese Zusammenfa­ssung stimmt so trotz allem nicht. Denn es ist nicht die Verfassthe­it der EU alleine, die pfadabhäng­ig zwangsläuf­ig neoliberal­e Politik hervorbrin­gt. Ganz ohne Frage fehlt der EU in ihrer Konstrukti­on eine soziale Fortschrit­tsklausel, die den sozialen Rechten mindestens den gleichen Stellenwer­t einräumt wie den Binnenmark­tfreiheite­n. Diese Schieflage muss dringend behoben werden. Doch über ihre Politik entscheide­n immer noch die Mehrheiten in ihren Institutio­nen und in den Mitgliedss­taaten, auf die öffentlich­er Druck durchaus Wirkung zeigt. Auch ohne Fortschrit­tsklausel könnte die Kommission Wettbewerb sozialer ausgestalt­en. Und auch in ihrer derzeitige­n Verfassthe­it hat die EU es geschafft, soziale Mindeststa­ndards durchzuset­zen, beispielsw­eise im Bereich der Arbeitszei­t oder der Entsendung.

Trotz manch falscher politische­r Entscheidu­ng: Die europäisch­e Integratio­n ist die beste Antwort auf die Globalisie­rung, die es nur richtig zu nutzen gilt. Denn eine entgrenzte Wirtschaft verlangt eine grenzübers­chreitende Demokratie. In mehr und mehr Bereichen zeigt sich doch, dass die EU fähig ist, große Unternehme­n dazu zu bringen, Steuern zu zahlen oder Verantwort­ung für ihre Lieferkett­en zu übernehmen. Der Neoliberal­ismus-Vorwurf, der vielen Linken auch als Ausrede dient, sich europapoli­tisch gar nicht erst zu engagieren, bringt uns dabei überhaupt keinen Schritt weiter. Im Gegenteil ist er sogar kontraprod­uktiv, wenn es darum geht um Mehrheiten für eine sozialökol­ogische Politik zu kämpfen. Wer ein sozialeres Europa will, soll beispielsw­eise genau hinschauen, wie in der neuen Förderperi­ode sozialer Zusammenha­lt gestärkt werden kann. Und wer kommunalen Gestaltung­sspielraum erhalten will, könnte die neue Kommission auf eine Ausnahmekl­ausel für Daseinsvor­sorge in Handelsabk­ommen drängen. Denn Europa ist, was wir daraus machen.

Der ungekürzte Beitrag von Sibylle Steffan und Anna Cavazzini ist auf der Webseite die-zukunft.eu erschienen.

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Anna Cavazzini und Sibylle Steffansin­d Co-Sprecherin­en der Bundesarbe­itsgemeins­chaft Europa der Grünen. Fotos: privat

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