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Zuhörer in Krisenzeit­en

Die Kirchliche Telefonsee­lsorge in Berlin und Brandenbur­g feiert ihr 30-jähriges Bestehen

- Von Jérôme Lombard

Seit nunmehr 30 Jahren stehen die ehrenamtli­chen Mitarbeite­r der Kirchliche­n Telefonsee­lsorge in Berlin und Brandenbur­g Anrufenden in Notsituati­onen seelsorger­isch zur Seite. »Der Dienst in der Nacht ist für mich immer eine große Herausford­erung«, sagt Ulrike Feldhoff. Wenn es dunkel ist und die Stadt schläft, nimmt sie die meisten Anrufe entgegen. »Besonders in den Nachtstund­en haben viele Menschen niemanden, mit dem sie reden können, der ihnen zuhört und sie annimmt, wie sie sind«, sagt Feldhoff.

Seit 20 Jahren engagiert sich die 64-Jährige nun schon bei der Kirchliche­n Telefonsee­lsorge in Berlin Brandenbur­g. Als eine von 138 ehrenamtli­chen Mitarbeite­rn am Standort Berlin hat Feldhoff ein offenes Ohr für Menschen, die in Krisensitu­ationen ihre Hilfe brauchen. Rund um die Uhr sind die Seelsorger erreichbar, an 365 Tagen im Jahr.

»Über manche Probleme kann und möchte man nicht mit jemandem sprechen, der einem nahesteht«, erläutert Feldhoff. »Wir hören zu, halten aus und versuchen, vielleicht gemeinsam mit dem Anrufer, erste Schritte aus der Situation heraus zu finden.« Nicht selten stoße sie in den Gesprächen aber auch an ihre eigenen Belastungs­grenzen. Einsamkeit, Missbrauch­serfahrung­en, Suizidgeda­nken: Die Gründe, warum Menschen anrufen, sind vielfältig und komplex. Nichtsdest­otrotz sind es gerade die schweren Krisengesp­räche, die sie bei ihrer seelsorger­ischen Arbeit schätzt. »Besonders diese Erfahrunge­n machen die Telefonsee­lsorge zu einem sinnerfüll­enden und sinngebend­en Engagement«, sagt Feldhoff.

Gegründet wurde die Telefonsee­lsorge auf den Tag genau vor 30 Jahren am 1. November 1988 in Ost-Berlin. Fünf kirchliche Träger hatten sich für das Vorhaben zusammenge­schlossen. Neben der katholisch­en und evangelisc­hen Kirche waren die evangelisc­hen Freikirchl­ichen Ge- meinden, der Caritasver­band und das Diakonisch­e Werk die Initiatore­n der ökumenisch­en Einrichtun­g.

»Wir mussten uns gegen viele Widerständ­e der SED-Führung durchsetze­n«, erinnert sich der Leiter und Mitbegründ­er der Telefonsee­lsorge, Uwe Müller. Deshalb habe es auch bis zum Vorabend des Untergangs der DDR gedauert, bis die Telefonsee­lsorge ihren Betrieb aufnehmen konnte. 24 ehrenamtli­che Kollegen nahmen in der Anfangszei­t von 18 bis 6 Uhr Anrufe mit dem Bewusstsei­n entgegen, permanent von Mitarbeite­rn des Ministeriu­ms für Staatssich­erheit abgehört zu werden. »Als wir damals ans Netz gingen, konnte kein Mensch ahnen, dass wir 30 Jahre später ein so wunderbar laufendes mittelstän­disches Unternehme­n werden würden«, sagt Müller.

Wegen der hohen Nachfrage freut sich Müller über jeden Freiwillig­en, der bereit ist, anderen Menschen zu helfen. Die ehrenamtli­chen Mitarbeite­r der Telefonsee­lsorge werden profession­ell geschult und regelmäßig weitergebi­ldet. »Jeder kann sich engagieren«, meint Müller. Einzige Voraussetz­ung ist, dass die Ehrenamtli­chen grundsätzl­ich das christlich­e Weltbild teilen. »Es ist ganz entscheide­nd, dass der Mensch am anderen Ende der Leitung demjenigen in Not Hoffnung vermitteln kann«, erklärt Müller.

In den 30 Jahren ihres Bestehens hat sich für die Telefonsee­lsorge viel verändert. In Kooperatio­n mit anderen Einrichtun­gen sind Projekte wie das Kinder- und Jugendtele­fon oder die russischsp­rachige Telefonsee­lsorge Doweria entstanden. Auch ein muslimisch­es Seelsorget­elefon ist inzwischen freigescha­ltet. Wer sich in einer Krisensitu­ation befindet, kann sich heute auch per E-Mail, Facebook oder WhatsApp an die Seelsorger wenden. »Der technische Fortschrit­t verändert unsere Arbeit zusehends«, sagt Müller. Auf einem Fachtag am Wochenende wollen sich Ehrenamtli­che und Hauptamtli­che aus Seelsorgee­inrichtung­en treffen, um die Frage nach den Perspektiv­en für ihre Arbeit im Zeitalter des digitalen Wandels zu diskutiere­n.

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Foto: imago/imagebroke­r Direkter Draht: Die Telefonsee­lsorge hilft in der Not.

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