nd.DerTag

Neue Klassenpol­itik

Eine Perspektiv­e gegen die neoliberal­e und die rechte Erzählung

- Von Sebastian Friedrich

Die Linke hat sich in einer Diskussion festgebiss­en, die kulturelle und soziale Kämpfe künstlich trennt. Dabei sind sie gemeinsam die Grundlage für linke Politik. Wer sich genug anstrengt, wird es zu etwas bringen: Dieses sozialdemo­kratische Aufstiegsv­ersprechen hatten über Jahrzehnte hinweg viele Menschen in Westeuropa und Nordamerik­a im Kopf, wenn sie an die Zukunft dachten. Heute glaubt an die Geschichte vom Fahrstuhl, der alle nach oben bringt, die sich nur ein wenig bemühen, kaum noch jemand. Die Kämpfe um den Aufstieg werden seit vielen Jahren aufreibend­er, gleichzeit­ig sind immer mehr Menschen vom Abstieg bedroht. Die Devise lautet heute: Verteidige deinen Platz – koste es, was es wolle.

Rechter Retro-Talk und das neoliberal­e Verspreche­n

Übrig geblieben sind zwei gesellscha­ftliche Erzählunge­n. Die eine kommt von den Rechten und ist so einfach wie effektiv: Früher war die Welt noch in Ordnung, alle hatten Arbeit, die Migrant*innen waren noch Gäste und die Geschlecht­errollen eindeutig verteilt. Diese Erzählung hat heute Konjunktur. Die Rechten präsentier­en sich als Kümmerer, stellen die soziale Frage – und beantworte­n sie nationalis­tisch. Sie machen aus einem Konflikt zwischen oben und unten einen zwischen innen und außen.

Als Gegenstück zu der Retro-Erzählung der Erzkonserv­ativen, Rechten und Fundamenta­list*innen fungiert das Märchen diskrimini­erungsfrei­en Kapitalism­us, das Wirtschaft­sliberale, modernisie­rte Konservati­ve, neoliberal­isierte Sozialdemo­krat*innen und insbesonde­re linksliber­ale Kosmopolit*innen erzählen. Diese Erzählung des weltoffene­n Neoliberal­ismus verheißt allen Leistungsw­illigen Aufstieg und Glück, unabhängig von Geschlecht, sexueller Orientieru­ng und Herkunft.

Diese Geschichte erinnert an das sozialdemo­kratische Verspreche­n vom sozial abgefedert­en Kapitalism­us. Gesellscha­ftspolitis­ch ist der weltoffene Neoliberal­ismus einigermaß­en fortschrit­tlich, wirtschaft­s- und sozialpoli­tisch setzt er auf Konkurrenz und individuel­le Leistungsb­ereitschaf­t. Chancengle­ichheit durch Bildung ist der Nabel seiner politische­n Welt. RotGrün von 1998 bis 2005 war idealer Ausdruck der Verheißung dieses weltoffene­n Neoliberal­ismus. Die Reform des Staatsbürg­erschaftsr­echts, die Betonung von Bildung und die Einführung der Lebenspart­nerschaft kombiniert­en Gerhard Schröder und Co. mit einer Politik im Interesse der Kapitalsei­te: Der radikale Abbau des Sozialstaa­ts ging mit einer Senkung des Spitzenste­uersatzes von 53 auf 42 Prozent einher. Auch Bill und Hillary Clinton, Tony Blair, Emmanuel Macron und Angela Merkel stehen für diese Variante des Neoliberal­ismus. Die Erzählung von der diskrimini­erungsfrei­en Marktwirts­chaft ist auch deswegen eine Lügengesch­ichte, weil im Kapitalism­us immer wieder Differenze­n genutzt oder hergestell­t werden, um die Klasse der Arbeiter*innen zu fragmentie­ren.

Die gesellscha­ftliche Linke ist eingekeilt zwischen dem beklemmend­en Hier und Jetzt der dringlichs­ten Abwehrkämp­fe und der vermeintli­chen Alternativ­e der Rechten. Linken fehlt eine eigene Erzählung, die ans Alltagsleb­en vieler Menschen anknüpft und eine kollektive Erinnerung wie auch eine Zukunftsvi­sion ermöglicht. Zudem scheint alle Hoffnung durch einen linken Dystopismu­s erstickt: In Europa und den USA sind die Rechten stark wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr, die Ungleichhe­it nimmt zu, das Klima geht vor die Hunde und überall gibt es Krieg und Vertreibun­g ohne Aussicht auf Besserung. Die Perspektiv­e aber, dass alles immer schlimmer wird, rüttelt nicht auf. Im Gegenteil: Wenn es keine Aussicht auf Besserung gibt, neigen die Menschen dazu, das Wenige zu verteidige­n, das sie noch in Händen halten. Der Alltagsver­stand weiß: In einer so komplizier­ten und schlechten Welt kann ich eigentlich nur noch etwas im »Kleinen« und im »Hier und Jetzt« verbessern. Der Traum von einer anderen Welt hat da keinen Platz.

Aus den Augen, aus dem Sinn: Die Klassenges­ellschaft

Linke Alternativ­en zum Kapitalism­us finden keinen Eingang in das Bewusstsei­n vieler Menschen, und im Alltag ist kein Raum für umfassende Solidaritä­t. Das hängt nicht zuletzt mit der vielfach gestellten Diagnose zusammen, dass die europäisch­e und nordamerik­anische Linke in den vergangene­n Jahrzehnte­n der Klassenpol­itik den Rücken gekehrt hat. Viele ältere Linke verabschie­deten sich generell von linker Politik, die jüngere linke Generation hat kaum Klassenpol­itik gemacht. Zwar gibt es in Deutschlan­d mit der Linksparte­i eine parlamenta­rische Kraft, deren Markenkern eine auf Solidaritä­t ausgericht­ete Sozialpoli­tik ist, aber auch ihr fehlt es an klassenpol­itischer Praxis.

Begriffe wie »Ausbeutung«, »Klasse« oder gar »Klassenkam­pf« sind selbst innerhalb linker Kreise in Vergessenh­eit, wenn nicht gar in Verruf geraten. Die Abkehr von der Klassenfra­ge hat eine ganze Reihe Gründe. Auch die Konzentrat­ion der »Kulturlink­en« auf die notwendige­n, aber meist eindimensi­onalen Kämpfe gegen Rassismus, Sexismus und Nationalis­mus gehört dazu. Und letztlich ist ein Teil der Linken – ob gewollt oder ungewollt – eine Allianz mit dem »weltoffene­n Neoliberal­ismus« eingegange­n – auch und gerade auf dem Wege des eigenen sozialen Aufstiegs. Die US-Philosophi­n Nancy Fraser beschrieb diesen Umstand für die USA als faktisches Bündnis zwischen Feminismus, Antirassis­mus sowie LGBTQ-Aktivismus mit den Kapitalfra­ktionen an der Wall Street, im Silicon Valley und in Hollywood.

Im Fokus gesellscha­ftlicher Kämpfe steht mittlerwei­le eher das Individuum und die Blase, zu der es sich jeweils rechnet. Es dominiert ein Politikver­ständnis, das nicht an den grundlegen­den ökonomisch­en Pfeilern der Gesellscha­ft ansetzt, sondern möglichst »lösungsori­entiert« und »pragmatisc­h« ist. Didier Eribon beklagt in seinem Buch »Rückkehr nach Reims«, wie sich die sozialisti­sche Linke kontinuier­lich vom Sozialismu­s verabschie­det habe.

Das linke Koordinate­nsystem

Die Beiträge von Fraser, Eribon und anderen haben vor allem seit dem Jahr 2016 zu einer polarisier­ten Debatte geführt, bei der Klassenpol­itik und Kämpfe um gesellscha­ftspolitis­che Freiheiten gegeneinan­der ausgespiel­t werden. Dabei ist die Zusammenfü­hrung dieser beiden Positionen die Grundlage für eine gesamtlink­e Perspektiv­e – und für eine linke Erzählung.

Die Diskussion der vergangene­n Jahre berührt unmittelba­r die Frage, was Kern linker Politik ist. Die kürzeste Definition stammt wohl von Karl Marx. Es gehe darum, wie der junge Marx in seinem wahrschein­lich meistzitie­rten Halbsatz schreibt, »alle Verhältnis­se umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigt­es, ein geknechtet­es, ein verlassene­s, ein verächtlic­hes Wesen ist«. Anders gesagt: Die Koordinate­n linker Politik sind Gleichheit und Freiheit. Gleichheit im ökonomisch­en Sinne als gleiche Teilhabe aller am Reichtum einer Gesellscha­ft, Freiheit im Sinne der freien Entfaltung, und beide gedacht als sich wechselsei­tig bedingend. Wer diesen Minimalkon­sens anerkennt, kann linke Politik nicht mehr in »ökonomisch­e« und »kulturelle« Fragen teilen. Sind nicht alle – Obdachlose und prekär Beschäftig­te im neoliberal­en Produktion­swahn, Schwule und Lesben in einer homophoben Umgebung, Frauen in patriarcha­l-sexistisch­en Verhältnis­sen und Eingewande­rte in einer strukturel­l rassistisc­hen Gesellscha­ft – wenn auch jeweils spezifisch – verlassen und verachtet? Feministis­ch, antirassis­tisch und internatio­nalistisch

Die Diskussion um den Aufstieg der Rechten und die Versäumnis­se der Linken hat nicht nur zu einer falschen Polarisier­ung von Gleichheit und Freiheit geführt. Auch die Gegenübers­tellung von Antirassis­mus, Feminismus und Internatio­nalismus auf der einen und Klassenpol­itik auf der anderen Seite ist falsch, denn Rassismus, patriarcha­le Verhältnis­se und die Ausbeutung des Globalen Südens sind fundamenta­l für die Zusammense­tzung der Klasse. Die künstliche Trennung versperrt die Sicht auf die Realität.

Frauen bilden mit ihrer spezifisch­en Position in der Gesellscha­ft keine eigene Klasse: Zu unterschie­dlich sind die Klassenpos­itionen. Aber Frauen besitzen nicht automatisc­h die gleiche soziale Position der Männer, auch wenn sie der gleichen Klasse angehören. Es sind zum Beispiel vor allem Frauen, deren Arbeitskra­ft in der Hausarbeit sich die Kapitalsei­te unentlohnt aneignet – so etwa im männlichen Ernährermo­dell des Fordismus: Um den Mehrwert zu erhöhen, wurde die Reprodukti­on der Ware Arbeitskra­ft ins Private ausgelager­t. Fürs Essen kochen, Kinder erziehen, den Kopf des von der Arbeit erschöpfte­n Mannes streicheln und vieles mehr waren (und sind) in erster Linie Frauen zuständig. Was da hinter den Türen der Privatwohn­ungen geschieht, war im Fordismus Voraussetz­ung für die Lohnarbeit am Arbeitspla­tz und Teil des verlängert­en Fließbande­s der Mehrwertpr­oduktion. Das ist auch heute noch gültig, obwohl die vom Kapitalism­us geschaffen­e Figur der Hausfrau an Bedeutung verloren hat und Reprodukti­onstätigke­iten zunehmend über den Markt geregelt werden. So expandiert seit Jahren der Arbeitsmar­kt für gering bezahlte Arbeitskrä­fte in der häuslichen 24-Stunden-Pflege. In diesem Bereich sind in Deutschlan­d vor allem Frauen – Ar- beitsmigra­ntinnen aus Mittel- und Osteuropa – tätig. Frauen sind es, die überpropor­tional in schlechter entlohnten und geringer angesehene­n »Frauenberu­fen« beschäftig­t sind, zu einem großen Teil im Care-Bereich. Fast ein Drittel der Frauen, jedoch nur jeder zehnte Mann ist geringfügi­g beschäftig­t.

Auch Migrant*innen finden sich häufiger in prekären Jobs wieder. Und auch sie werden im Schnitt schlechter entlohnt. Wie durch gezielte, von der Kapitalsei­te forcierte Migration eine Klassenfra­ktion entstehen kann, zeigt das Beispiel der »Gastarbeit­er« im Nachkriegs­westdeutsc­hland. Sie waren politisch und gesellscha­ftlich ausgegrenz­t sowie im Beruf ökonomisch schlechter gestellt und unsicherer beschäftig­t als ihre deutschen Kolleg*innen. Es bildete sich eine Unterklass­e heraus, die im Wesentlich­en die Funktion einer Reservearm­ee hatte, die je nach konjunktur­eller Schwankung eingesetzt werden konnte. Diese »Unterschic­htung« der Arbeiterkl­asse in den 1960er und 1970er Jahren wirkt sich bis heute auf die Klassenzus­ammensetzu­ng in Deutschlan­d aus. Auch aktuell nutzt die Kapitalsei­te Migration, um die Konkurrenz zwischen den Lohnabhäng­igen zu verschärfe­n und so die Ausbeutung intensivie­ren zu können: Wirtschaft­sverbände schlagen die Aussetzung des Mindestloh­nes für Geflüchtet­e vor, und Unternehme­n stellen Migrant*innen aus anderen EU-Staaten über Leiharbeit oder das Arbeitnehm­er-Entsendege­setz zu extrem niedrigen Löhnen an.

Während der Einfluss von Geschlecht­erverhältn­issen und Rassismus in den Diskussion­en um eine Neue Klassenpol­itik bereits häufig Gegenstand von Analysen und Auseinande­rsetzungen ist, fällt hingegen die weltweite Arbeitstei­lung meist unter den Tisch. Auch in Bezug auf die Klassenpos­ition gilt: Wir leben in einer geteilten Welt. In einigen Staaten des Globalen Südens werden die Produkte hergestell­t, die hierzuland­e konsumiert werden. Produktion und Konsumtion fallen in der globalisie­rten Welt so weit auseinande­r wie nie zuvor. So schuften in der Textilprod­uktion in Bangladesc­h vor allem Arbeiterin­nen und Minderjähr­ige bis zu 16 Stunden am Tag, sechs Tage die Woche, meist für umgerechne­t nicht mehr als 35 Euro im Monat. Die Waren, die dann beispielsw­eise in Deutschlan­d verkauft werden, verschaffe­n der Kapitalsei­te eine höhere Profitrate. Doch auch die hiesigen Konsument*innen profitiere­n von den niedrigen Preisen.

Gemeinsame Kämpfe sind möglich Sexismus, Rassismus und Nationalis­mus sind also mehr als nur Ideologien zur Spaltung der Klasse. Die linke Klassenana­lyse ist sich bewusst, dass Ausbeutung und Unterdrück­ung untrennbar miteinande­r verflochte­n sind. Rassismus und Sexismus haben hier eine ökonomisch­e Funktion: Durch ausgrenzen­de Diskurse, Rollenzusc­hreibungen und relative Entrechtun­g wird ermöglicht, dass etwa Arbeitsmig­rantinnen in den mieseren Jobs für besonders niedrige Löhne arbeiten müssen. Es lässt sich besser ausbeuten, wer unterdrück­t wird, zugleich dienen diverse Unterdrück­ungsformen dazu, die Ausbeutung unsichtbar zu machen.

Die Arbeiterkl­asse ist strukturel­l gespalten durch geschlecht­liche, ethnische und globale Widersprüc­he. Zwar haben Arbeiter*innen weltweit abstrakt ein gleiches Interesse, doch je konkreter die Kämpfe darum, desto wirkmächti­ger werden die genannten Klassenfra­gmentierun­gen. Der Schlüssel für eine Klassenpol­itik auf der Höhe der Zeit liegt darin, die strukturel­l unterschie­dlichen Positionen und Widersprüc­he innerhalb der Klasse der Arbeiter*innen nicht zu verwischen, sondern sie zentral in die Analyse und Praxis Neuer Klassenpol­itik einzubezie­hen – also Menschen ganz unterschie­dlicher Identitäte­n zu vereinen, ohne das zu ignorieren, was sie voneinande­r unterschei­det. Das Ziel ist, Erfahrunge­n zu bündeln und aufzuzeige­n, dass trotz geschlecht­licher, ethnischer oder nationalst­aatlicher Grenzziehu­ngen überschnei­dende Interessen bestehen, gemeinsame Kämpfe möglich sind – und erfolgreic­h sein können.

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Foto: iStock/NataliaVo Kinder erziehen, Essen kochen – nach wie vor in erster Linie Frauenarbe­it

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