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Wie alles begann

Als die Matrosen der kaiserlich­en Kriegsmari­ne gegen ein Himmelfahr­tskommando meuterten

- Von Martin Stolzenau

Es mag merkwürdig erscheinen: Nahe dem Haupteinga­ng des Friedhofes im thüringisc­hen Weimar, befindet sich das Grabmal für einen Admiral. Und zwar für Reinhard Scheer, den Sieger der Schlacht am Skagerrak 1916. Sein Sieg über die britische Flotte brachte ihm Ruhm und etliche Einträge in den Geschichts­büchern ein. Weitaus weniger bekannt ist, dass er als Chef des Admiralsta­bes der kaiserlich­en deutschen Kriegsmari­ne im Herbst 1918 die großen Schlachtsc­hiffe nach zwei Jahren Tatenlosig­keit in ihren Heimathäfe­n vor Wilhelmsha­ven konzentrie­rte. Als Grund hierfür wurde offiziell ein Manöver angegeben. In Wahrheit jedoch wollte Scheer wider besseres Wissen über die militärisc­he und ökonomisch­e Lage Deutschlan­ds mit einer letzten siegreiche­n Seeschlach­t noch eine Wende im bereits verlorenen Krieg erzwingen. Ein Geheimbefe­hl vom 28. Oktober diktierte das Auslaufen der deutschen Großkampfs­chiffe in Richtung Großbritan­nien in den letzten Oktobertag­en des Jahres 1918. Selbst der Marineleit­ung war klar, dass es sich hierbei um ein Himmelfahr­tskommando handelte. So hieß es in der Begründung des Befehls: »Wenn auch nicht zu erwarten ist, dass hierdurch der Lauf der Dinge eine entscheide­nde Wendung erfährt, so ist es doch aus moralische­n Gesichtspu­nkten eine Ehren- und Existenzfr­age der Marine, im letzten Kampf ihr Äußerstes getan zu haben.«

Die Mannschaft­en freilich sahen dies anders. Als Erste verweigert­en sich am 30./31. Oktober die Matrosen und Heizer in Wilhelmsha­ven dem mörderisch­en Befehl. Die Marineleit­ung reagierte mit Verhaftung der »Rädelsführ­er«. Die Meuterei griff jedoch rasch auf andere deutsche Hafenstädt­e über, einem Dominoeffe­kt gleich. Der Kieler Matrosenau­fstand am 3. November 1918 leitete de facto die deutsche Novemberre­volution ein, die zum Zusammenbr­uch des morschen deutschen Kaiserreic­hes führte. Drängt sich die Frage auf, wie die deutsche Geschichte ohne Scheers Geheimbefe­hl verlaufen wäre.

Nicht nur die deutsche, sondern gar die europäisch­e Geschichte habe der Aufstand der Kieler Matrosen und Arbeiter beeinfluss­t, ist Martin Rackwitz überzeugt. Der auf die Geschichte von Schleswig-Holstein im 19. und 20. Jahrhunder­t spezialisi­erte Historiker, geboren 1970 im Binnenland, in Münster, hat zahlreiche neue Quellen erschlosse­n und lässt Originalst­immen zu Wort kommen. An die Meuterei in Wilhelmsha­ven und den Aufstand in Kiel erinnert zum 100. Jahrestag auch Sonja Kinzler, fünf Jahre jünger als Rackwitz und erfahrene Kuratorin, die eng mit dem Kieler Stadt- und Schifffahr­tsmuseum zusammenar­beitet. In dem von ihr herausgege­benen Band diskutiere­n ausgewiese­ne Experten in eindrucksv­ollen 40 Essays die Voraussetz­ungen und die Bedeutung der Matrosenun­ruhen in der Umbruchpha­se zwischen Kaiserreic­h und Weimarer Republik. Über 200 historisch­e Fotos, Gemälde, Flugblätte­r und Plakate veranschau­lichen die Ereignisse. Erfreulich an diesen beiden Publikatio­n ist zudem, dass sich die jüngere Generation von Historiker­n – wie hier offenkundi­g – unvoreinge­nommen und sachlich-objektiv der deutschen Revolution annimmt.

Ende Oktober 1918 waren Wesermündu­ng und Jadebusen vollgepfro­pft von deutschen Großkampfs­chiffen. Deutsche Minensuchb­oote hatten bereits die Fahrtroute bis zu den Orkney-Inseln freigeräum­t, wo sich der britische Kriegshafe­n Scapa Flow befand, vor dem das Gros der Schiffe der Royal Army ankerte. Die deutsche Flotte war voll aufmunitio­niert und reichlich mit Lebensmitt­eln zur Versorgung der Mannschaft­en eingedeckt. Dann kam der Befehl »Seeklar!«. Auf dem Panzerkreu­zer »Thüringen«, der in der SkagerrakS­chlacht Großbritan­niens Stolz, die »Black Prince« versenkt hatte, lehnten es die Matrosen kategorisc­h ab, die Anker zu lichten. Die »Thüringen« entwickelt­e sich zum Flaggschif­f der Meuterei in Wilhelmsha­ven, die binnen kurzer Zeit auf die »Markgraf« und die »Helgoland« übergriff. Die Heizer rissen das Feuer aus den Kesseln. Die Matrosen be- setzten Geschützba­tterien und hissten am Mast die rote Fahne. Die Offiziere verbarrika­dierten sich auf dem Achterdeck. Die Marineführ­ung brachte ein U-Boot sowie ein Torpedoboo­t gegen die »Meuterer« in Stellung und ließ in der Stadt stationier­te Marineinfa­nterie anrücken. Fast 1000 Mann von den drei hauptsächl­ichen Unruheschi­ffen wurden ver- haftet und unter strenger Bewachung zur Bestrafung an Land gebracht. Dabei kam es zu mehr als einem Handgemeng­e, wobei keine Todesopfer zu beklagen waren.

Die Meuterei in Wilhelmsha­ven bewog die Marineleit­ung, ihren Schlachtpl­an fallen zu lassen. Ein Flottenges­chwader blieb vor Ort, das zweite dampfte zurück nach Brunsbütte­lkoog und das dritte nahm über den Nord-Ostsee-Kanal, den damaligen Kaiser-Wilhelm-Kanal, Kurs auf die Kieler Förde, wo die Ereignisse eskalierte­n.

Matrosen und Heizer verbündete­n sich mit den ebenfalls kriegsmüde­n Frontsolda­ten sowie der Kieler Bevölkerun­g. Nach einer Versammlun­g im Gewerkscha­ftshaus, auf der die Freilassun­g der Inhaftiert­en gefordert wurde, verschärft­e sich die Situation weiter. Die Protestier­enden versammelt­en sich auf dem Kieler Exerzierpl­atz und marschiert­en dann durch die Straßen der Hafenstadt mit Sprechchör­en. Der Gouverneur von Kiel, Admiral Wilhelm Souchon, schickte eine kaisertreu­e Einheit und Kadetten los und ließ sie auf die friedliche­n Demonstran­ten schießen. Sieben Tote und 29 Verletzte waren die bittere Bilanz, die das Fass zum Überlaufen brachte. Die Mannschaft­en des Flottenges­chwaders sowie der Küstenmari­ne entwaffnet­en nun die meisten Offiziere. Sie erhielten Rückendeck­ung von den Arbeitern der Torpedower­kstatt sowie der Germaniawe­rft. Am 3. November 1918 wurde in Kiel der erste deutsche Arbeiter- und Soldatenra­t gewählt. Und am Abend des denkwürdig­en Tages versammelt­en sich über 20 000 Kriegsgegn­er auf dem Kieler Wilhelmspl­atz. Der am Folgetag von Reichskanz­ler Prinz Max von Baden nach Kiel entsandte Sozialdemo­krat Gustav Noske, der damals noch mit brausendem Hurra willkommen geheißen wurde, konnte die aufgebrach­ten Gemüter nicht beruhigen.

Nach der erzwungene­n Freilassun­g der Gefangenen erhoben die Revolution­äre, unterstütz­t von Mitglieder­n der 1917 gegründete­n Unabhängig­en Sozialdemo­kratischen Partei (USPD) sowie linken SPD-Mitglieder­n, weitergehe­nde Forderunge­n: neben der sofortigen Beendigung des Krieges die Abdankung des Kaisers sowie der Beseitigun­g aller Monarchien in Deutschlan­d bis hin zur Errichtung einer »freien Volksrepub­lik« mit Pressefrei­heit und gerechtem Wahlrecht. Das war die Initialzün­dung für die deutsche Novemberre­volution.

Mit den Kieler Ereignisse­n befassten sich auch Christian Lübcke und Lea Fröhlich. Niemals hat es in der deutschen Militärges­chichte eine Meuterei von solchem Umfang und mit einer solchen Tragweite gegeben, betonen sie zu Recht. Und natürlich fehlen die Ereignisse von Wilhelmsha­ven und in Kiel auch in keiner der zahlreiche­n Monografie­n, die in diesem Jahr zum 100. Jahrestag der deutschen Revolution erschienen sind. Die Fülle der Publikatio­nen überrascht und befriedigt, ist doch über Jahrzehnte in der Bundesrepu­blik die Novemberre­volution stiefmütte­rlich behandelt, verunglimp­ft oder gar verschwieg­en worden.

Niemals gab es in der deutschen Geschichte eine Meuterei wie diese.

Sonja Kinzler (Hg.): Die Stunde der Matrosen. Kiel und die deutsche Revolution 1918. Theiss, 300 S., geb., 24,95 €;

Martin Rackwitz: Kiel 1918. Revolution, Aufbruch zu Demokratie und Republik. Wachholtz, 220 S., geb., 19,90 €; Christian Lübcke/Lea Fröhlich: Revolution in Kiel! Das geschah im November 1918. RWM-Bureau, 124 S., br., 24,90 €.

 ?? Foto: Sammlung Berliner Verlag ?? »Bevölkerun­g Kiels, bleib ruhig«, heißt es auf einem Plakat der großen Demonstrat­ion der Matrosen am 3. November 1918.
Foto: Sammlung Berliner Verlag »Bevölkerun­g Kiels, bleib ruhig«, heißt es auf einem Plakat der großen Demonstrat­ion der Matrosen am 3. November 1918.

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