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»Majestät, gengs’ heim, Revolution is!«

Simon Schaupp hat ein spannendes Tagebuch der bayerische­n Revolution verfasst

- Von Christophe­r Wimmer

Vom ersten Satz an ist man gefesselt, Leser und Leserinnen werden förmlich hineingezo­gen in die Geschichte der Revolution in Bayern vor 100 Jahren. »München stinkt. Es ist heiß an diesem Tag und in den Straßen liegen Abfälle«, erfährt man über den Tag, an dem die 738 Jahre lang herrschend­e Dynastie der Wittelsbac­her gestürzt wird. König Ludwig III. wird während eines Spaziergan­gs von Arbeitern angesproch­en: »Majestät, gengs’ heim, Revolution is!«

Nach einer Kundgebung mit rund 60 000 Teilnehmer­n stürmen in München Arbeiter und Arbeiterin­nen sowie Soldaten, geführt von Kurt Eisner, die Kasernen und Regierungs­gebäude in München, stürzen die Monarchie und rufen die Volksrepu- blik aus. So geschehen am 7./8. November 1918.

Simon Schaupp beginnt sein spannendes Buch mit den Januarstre­iks 1918, als in ganz Deutschlan­d Arbeiter und Arbeiterin­nen für ein Ende des Krieges und die Einführung der Demokratie die Betriebe besetzten und auf die Straße gingen. Auch in Bayern sorgten diese ersten machtvolle­n Friedensku­ndgebungen für eine breite Politisier­ung der Bevölkerun­g. Schaupp schildert, wie der Rätekongre­ss de facto die Regierungs­geschäfte übernahm und die bürgerlich­en Landtagsab­geordneten panikartig flohen, um unter der Führung der SPD eine Gegenregie­rung in Bamberg zu bilden. Am 7. April 1919 wird die Räterepubl­ik ausgerufen – sie markiert die dritte Phase der Revolution in Bayern. Vor allem Kommuniste­n organisier­en die Verteidi- gung der Rätemacht gegen innere und äußere Feinde. Abschließe­nd berichtet der Autor über die Niederschl­agung der Räterepubl­ik und den »Weißen Terror« bis Ende August 1919.

Das Buch des Soziologen offeriert nicht fundamenta­l neue historiogr­aphische Erkenntnis­se. Was das Buch ausmacht, ist die Perspektiv­e, die es einnimmt. Die Anlehnung des Titels an Magnus Enzensberg­ers Buch »Der kurze Sommer der Anarchie« über die spanische Revolution scheint bewusst getroffen zu sein. Schaupp geht ähnlich vor wie jener: Gestützt auf zahlreiche zeitgenöss­ische Quellen, Zitate, Plakate und Bilder zeichnet er minutiös den Ablauf der Ereignisse vom 26. Januar 1918 bis zum 1. September 1919 nach. Dafür hat er gut recherchie­rt. Der ungeheure Detailreic­htum überforder­t nicht, sondern veranschau­licht die Ereignisse und macht Geschichte konkret erfahrbar. Nahezu hautnah begleitet der Leser drei Protagonis­ten, erlebt das Geschehen mit deren Augen. Da ist einerseits Hilde Kramer, die als 18-Jährige bereits zum innersten Kreis der Münchner Revolution gehört, sodann der anarchisti­sche Lyriker und Publizist Erich Mühsam sowie der Schriftste­ller und Revolution­är Ernst Toller. Mit ihnen nimmt man an Demonstrat­ionen und Gesprächen teil. Die kurzen Stakkato-Sätze Schaupps unterstrei­chen die Unmittelba­rkeit der jeweiligen Situation. Alle Sinne sind angesproch­en: Die Revolution­äre sind übermüdet, gezeichnet von Krankheit, gelb ihre Gesichter. In den Bierkeller­n und Caféhäuser­n geht es turbulent her, ist es muffig und laut.

Schaupp verwebt die Lebensläuf­e seiner Helden mit den historisch­en Ereignisse­n, deutlich werden Zusam- menhänge zwischen individuel­lem Handeln und dem Großen und Ganzen. Nicht zufällig wählte Schaupp seine drei Protagonis­ten – sie stehen für die drei revolution­ären Gruppen links der Sozialdemo­kratie, welche die Revolution in Bayern maßgeblich beeinfluss­ten: Parteikomm­unismus, Anarchismu­s und Sozialismu­s.

Oskar Maria Graf hat in seiner ehrlichen, schonungsl­os offenen Biografie »Wir waren Gefangene« packend wie berührend seine Erlebnisse zu Ende des Ersten Weltkriegs und in der Münchner Räterepubl­ik verewigt. Er gehört zwar einer anderen Liga als Schaupp an, doch wandeln beide auf ähnlichen Pfaden.

Simon Schaupp: Der kurze Frühling der Räterepubl­ik. Ein Tagebuch der bayerische­n Revolution. Unrast-Verlag, 304 S., geb., 19,80 €

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