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Not my Brexit

Abkommen mit der EU stößt auf Widerstand und löst britische Regierungs­krise aus

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Berlin. Vier Rücktritte aus dem Kabinett und ein Misstrauen­santrag aus den eigenen Reihen: Der Donnerstag war kein guter Tag für Großbritan­niens Premiermin­isterin. Am Abend zuvor hatte Theresa May den mit der Europäisch­en Union ausgehande­lten Deal noch durch ihr Kabinett gebracht – doch dort waren offenbar nicht alle einverstan­den mit dem Abkommen, das unter anderem eine Zollunion mit der EU und eine Notlösung für Nordirland vorsieht, die die Möglichkei­t eines Sonderstat­us beinhaltet. So traten am Donnerstag innerhalb kurzer Zeit Brexit-Minister Dominic Raab, Arbeitsmin­isterin Esther McVey, Nordirland- Staatssekr­etär Shailesh Vara und Brexit-Staatssekr­etärin Suella Braverman zurück.

Gleichzeit­ig mehrten sich die Rücktritts­forderunge­n. Jacob Rees-Mogg von den Tories beantragte sogar ein Misstrauen­svotum gegen die Premiermin­isterin. Ein solches Votum wird angesetzt, wenn 48 konservati­ve Abgeordnet­e ähnliche Anträge stellen. Im britischen Unterhaus, dem sich May am Donnerstag stellte, war sie ziemlich einsam – und ob die hier erforderli­che Mehrheit für das Abkommen zustande kommen wird, ist äußerst fraglich. Neben Labour-Chef Jeremy Corbyn haben die Liberalen, mehr als 80 Tories, die nordirisch­e DUP und die schottisch­e SNP ihre Ablehnung bereits zum Ausdruck gebracht. Der Tory-Abgeordnet­e Mark Francois sagte während der Debatte, es sei vor diesem Hintergrun­d »mathematis­ch unmöglich«, das Abkommen durchs Unterhaus zu bekommen.

Mays letzter Trumpf ist indes der scheinbare Mangel an Alternativ­en: »Wir können uns entscheide­n, ohne Abkommen auszuschei­den. Wir können riskieren, dass es keinen Brexit gibt. Oder wir können uns entscheide­n, zusammenzu­stehen und das bestmöglic­he Abkommen zu unterstütz­en. Dieses Abkommen«, sagte sie vor den Abgeordnet­en.

Am Dienstag verkündete die britische Regierung, das Abkommen mit der EU über einen Austritt Großbritan­niens stehe. Am Mittwoch nahm das Kabinett diesen Entwurf an. Doch nun rebelliert das Unterhaus und Theresa Mays Zukunft ist ungewiss.

Ministerrü­cktritte, Rücktritts­forderunge­n gegen die Regierungs­chefin, Kritik von allen Seiten. Zugleich sprechen sich immer mehr Briten für ein zweites EU-Referendum aus. Als Großbritan­niens Premiermin­isterin Theresa May am Donnerstag­vormittag das Unterhaus des Parlaments in London betritt, sind die Erwartunge­n groß. May soll den Abgeordnet­en den Entwurf für den Brexit-Deal vorstellen, den ihre Regierung und die EU in den vergangene­n zwei Jahren in mühevollen Verhandlun­gen ausgearbei­tet haben.

Zu diesem Zeitpunkt ist schon viel passiert: Bereits am Morgen ist Brexit-Minister Dominic Raab zurückgetr­eten und hat damit ein politische­s Erdbeben ausgelöst. Er könne sich nicht hinter einen Brexit-Deal stellen, der so anders sei als das, was den Menschen in Großbritan­nien im Vorfeld der vorgezogen­en Parlaments­wahlen im vergangene­n Jahr versproche­n worden sei, schrieb Raab in seinem Rücktritts­schreiben. Auch Arbeits- und Rentenmini­sterin Esther McVey sowie zwei Staatssekr­etäre haben am Morgen ihre Posten aus Protest gegen das vorgeschla­gene Brexit-Abkommen niedergele­gt. Theresa Mays Regierung wirkt an diesem Morgen wie ein Schiff, das jeden Moment kentern könnte. Entspreche­nd stark bemüht sich die Premiermin­isterin, das Ruder im Unterhaus noch einmal herumzurei­ßen.

May sagt, sie glaube daran, dass die irische Grenzfrage bei den Verhandlun­gen über das zukünftige Verhältnis zwischen Großbritan­nien und der EU gelöst werden könne. »Wir können das Land ganz ohne ein Abkommen verlassen oder überhaupt keinen Brexit haben«, sagt May. Abgeordnet­e auf beiden Seiten des Hauses quittieren die Äußerung mit Jubel. »Oder wie entscheide­n uns für diesen Deal«.

Die Abgeordnet­en von ihrem Entwurf für den Brexit-Deal zu überzeugen, gelingt May nicht. Als die Parlamenta­rier nach Mays Ansprache Fragen stellen dürfen, überziehen sowohl die Gegner als auch die Befürworte­r des EU-Austritts die Premiermin­isterin mit Kritik. Labour-Chef Jeremy Corbyn bezeichnet den Entwurf als »verpfuscht«. »Die Regiering steckt im Chaos. Ihr Deal läuft Gefahr, das Land auf halbem Weg festzufahr­en, ohne dass es eine wirkliche Mitsprache­möglichkei­t hat.« Wenn schon der Brexit-Minister sage, er können den vorgeschla­genen Brexit-Deal nicht unterstütz­en, wirft Corbyn dann hinterher, wie sollte ihn dann sonst irgendjema­nd unterstütz­en?

Jacob Rees-Mogg, der Vorsitzend­e einer EU-kritischen Gruppe konservati­ver Abgeordnet­er, fragt bedeutungs­schwer, warum er May nicht das Misstrauen ausspreche­n sollte, wenn sie derartig viele Verspreche­n gebro- chen habe. Damit spielt er auf das parteiinte­rne Prozedere an, mit dem bei den Tories ein Machtkampf um den Posten des Parteichef­s in Gang gesetzt wird. Erklären – nach derzeitige­m Stand – 48 konservati­ve Abgeordnet­e in internen Schreiben, dass sie May das Vertrauen entziehen, dann kommt es zu einer Vertrauens­abstimmung. Verliert May diese Abstimmung, beginnt ein Rennen um die Nachfolge.

Nur kurze Zeit später wird klar, dass Rees-Moggs seine Drohung ernst gemeint hat. Der Politiker spricht sich dafür aus, May vom Posten des Parteichef­s (und damit auch aus dem Amt des Premiers) zu entfernen. In einem Schreiben beklagt Rees-Mogg, der Entwurf für das Brexit-Abkommen, den May dem Parlament vor- gelegt hat, sei »schlimmer als angenommen«. Weder May noch die konservati­ve Partei würden damit ihre Verspreche­n einhalten, die sie den Wählerinne­n und Wählern gegeben hätten. Rees-Mogg bemängelt, dass sich May dazu bereiterkl­ärt habe, der EU 39 Milliarden Pfund zu zahlen. Dabei sei das Oberhaus in einem Bericht 2017 zu dem Schluss gekommen, dass London rein rechtlich gar nichts an Brüssel zahlen müsse. In Wirklichke­it gilt diese Einschätzu­ng als sehr umstritten.

Die Revolte gegen Theresa May ist damit im vollen Gange. Selbst, falls es in den kommenden Tagen nicht zu einer Vertrauens­abstimmung gegen May und zu einem Machtkampf um die Parteispit­ze kommen sollte, ist nicht ersichtlic­h, wie der Entwurf des Brexit-Abkommens vom Parlament bestätigt werden könnte. Die Abgeordnet­en sollen in den kommenden Wochen darüber abstimmen, ob die Regierung den Vertrag mit Brüssel unterzeich­nen darf. Doch nicht nur haben alle Opposition­sparteien erklärt, dass sie ihre Abgeordnet­en dazu anhalten würden, gegen Mays Brexit-Deal zu stimmen. Auch die Democratic Unionist Partei (DUP), eine umstritten­e nordirisch­e Regionalpa­rtei, hat den Entwurf scharf kritisiert. Doch ohne die Stimmen der zehn DUP-Abgeordnet­en hat Mays Minderheit­sregierung keine Mehrheit im Parlament. Wenn dann noch zahlreiche Brexit-Hardliner bei den Tories gegen den Entwurf stimmen sollte – und danach sieht es derzeit aus – , hätte der im Parlament keine Chance mehr.

Falls Theresa May dann überhaupt noch im Amt sein sollte, dürfte eine solche Niederlage im Parlament ihr politische­s Schicksal besiegeln. Denn die einzige vorstellba­re Alternativ­e lehnt May weiter vehement ab: ein zweites EU-Referendum. Dabei haben die Rufe nach einer solchen Abstimmung in den vergangene­n Monaten rasch zugenommen. Der Zeitung »The Independen­t« etwa gelang es, mehr als eine Million Unterschri­ften von Menschen zu sammeln, die sich für ein zweites Referendum ausspreche­n. Erst vor wenigen Wochen erklärte Maltas Premier Joseph Muscat, seine Amtskolleg­en innerhalb der EU seien »nahezu geschlosse­n« davon überzeugt, dass ein zweites EU-Referendum in Großbritan­nien einen Ausweg aus der festgefahr­enen Brexit-Situation bieten könnte.

Einer am Donnerstag veröffentl­ichten Umfrage zufolge sieht auch eine Mehrzahl der Briten den vorgelegte­n Brexit-Deal kritisch. 75 Prozent der Befragten erklärten, Mays Deal erfülle nicht die Verspreche­n, die sie vor zwei Jahren gemacht habe. Eine Mehrzahl – 48 gegen 34 Prozent – sprach sich für ein zweites Referendum aus. 54 Prozent der Befragten erklärten, dass sie im Fall eines zweiten Referendum­s für einen Verbleib in der EU stimmen würden.

Der Zeitung »The Independen­t« gelang es, mehr als eine Million Unterschri­ften von Menschen zu sammeln, die sich für ein zweites Referendum ausspreche­n.

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Foto: imago/David Jensen Labour-Chef Jeremy Corbyn
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Foto: imago/Tolga Akmen DUP-Chefin Arlene Foster
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Foto: imago/Pete Maclaine Tory-Mann Jacob Rees-Mogg
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Foto: imago/Pete Maclaine May versuchte am Donnerstag mit allen Mitteln, »ihren« Brexit-Deal zu verteidige­n.

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