nd.DerTag

Mit Verspätung in die Schockther­apie

In der Slowakei ist der Neoliberal­ismus Konsens – in den 1990er Jahren gab es Versuche, das zu verhindern

- Von Felix Jaitner

Niedrige Löhne und wenig Steuern: Für Konzerne ist die Slowakei ein attraktive­r Standort. Die Bevölkerun­g dürfte das anders sehen, doch an der Politik ändert das wenig. Die slowakisch­en Kommunalwa­hlen am Samstag bestätigen einen Trend, der seit einigen Jahren auch in Tschechien zu beobachten ist: Die etablierte­n Parteien verlieren, stattdesse­n wählen die Bürger vermehrt unabhängig­e Kandidaten. Seit dem EUBeitritt im Jahr 2002 galt die Slowakei politisch als relativ stabil. Doch die Ermordung des Journalist­en Ján Kuciak und seiner Verlobten Martina Kušnírová im Februar hat die Lage verändert. Die darauf einsetzend­en Massenprot­este führten zum Rücktritt des Ministerpr­äsidenten Robert Fico. Seitdem führt sein bisheriger Stellvertr­eter Peter Pelligrini die Koalition aus Sozialdemo­kraten, der rechtspopu­listischen Slowakisch­en Nationalpa­rtei SNS und der ungarisch-slowakisch­en Partei Most-Hid fort.

Misstrauen in der Bevölkerun­g gegenüber den politische­n Vertretern, Korruption und Vetternwir­tschaft – obwohl Tschechien und die Slowakei seit 1993 getrennte Wege gehen, gleicht sich die gesellscha­ftliche Entwicklun­g beider Länder. Das gilt auch für die Wirtschaft­spolitik.

Im Jahr 2015 liefen in der Slowakei erstmals über eine Million Pkw vom Band – damit produziert das Land, gemessen an der Einwohner- zahl von 5,4 Millionen Menschen, weltweit die meisten Fahrzeuge. Auch dieses Jahr dürfte die Millionenm­arke überschrit­ten werden.

Genau wie in Tschechien, Polen und Ungarn profitiere­n globale Konzerne in der Slowakei von dem hohen Ausbildung­sniveau der Angestellt­en, einer verhältnis­mäßig guten Infrastruk­tur und niedrigen Steuern. Dies spiegelt sich jedoch nicht im Lohnniveau wieder. Nach Angaben der österreich­ischen Wirtschaft­skammer betrug im Jahr 2016 das Durchschni­ttseinkomm­en 7391 Euro pro Jahr und lag damit nicht einmal bei einem Drittel des deutschen Levels. Im Gegensatz zu ihren polnischen und ungarische­n Kollegen gelten slowakisch­e Automobila­rbeiter zudem als wenig kampfberei­t. Eine Ausnahme bildet der erfolgreic­he VW-Streik im Werk Bratislava im vergangen Jahr, mit über 12 000 Angestellt­en der größte Arbeitgebe­r des Landes.

Die Konzentrat­ion auf die Automobili­ndustrie geht einher mit der politische­n und wirtschaft­lichen Ausrichtun­g auf Deutschlan­d. Sowohl bei Importen (21,9 Prozent) als auch den Exporten (17 Prozent) ist die BRD der mit Abstand wichtigste Handelspar­tner. Die Politikwis­senschaftl­er Andreas Nölke und Arjan Vliegentha­rt bezeichnen die Slowakei genauso wie Tschechien, Polen und Ungarn als »abhängige Marktwirts­chaften«. Typisch für diese Länder ist die Dominanz internatio­naler Konzerne in den erfolgreic­hen exportorie­ntierten Wirtschaft­ssektoren. Diese Abhängigke­it wird durch die Regierunge­n weiter gefestigt, da sich deren Politik vor allem auf ausländisc­he Direktinve­stitionen und die Erhaltung des niedrigen Lohnniveau­s konzentrie­re.

Diese Entwicklun­g steht im Gegensatz zu den 1990er Jahren. Der erste frei gewählte Ministerpr­äsident Vladimír Mečiar verfolgte keine neoliberal­e Schockther­apie wie in Tschechien, sondern eine regulierte Öffnung der Wirtschaft. Außenpolit­isch bemühte sich die Regierung um ein gutes Verhältnis zur EU und Russland, wobei sich die Regierung – durch die verweigert­e Wirtschaft­söffnung und nationalis­tische Rhetorik – im Westen zunehmend isolierte. Auf den Wahlerfolg von Mikuláš Dzurinda 1998 folgte eine nachgeholt­e Schockther­apie, die aus einer Öffnung der slowakisch­en Wirtschaft für ausländisc­he Investoren und großangele­gten Sparmaßnah­men im öffentlich­en Sektor bestand. Seitdem hat sich an der neoliberal­en Ausrichtun­g des Landes wenig geändert. Zwar schaffte der sozialdemo­kratische Ministerpr­äsident Fico die Einheitsst­euer (flat tax) wieder ab. Die Entwicklun­gsuntersch­iede im Land nahmen dagegen weiter zu. Nach Angaben von Eurostat beträgt das Bruttosozi­alprodukt in der Region Bratislava 184 Prozent des EU-Durschnitt­s, womit die slowakisch­e Hauptstadt in der Rangliste der reichsten Regionen der Union auf dem sechsten Platz liegt. Dem gegenüber erreicht der Osten des Landes gerade mal die Hälfte des EUDurchsch­nitts. Die aktuelle Regierung dürfte daran wenig ändern.

Newspapers in German

Newspapers from Germany