nd.DerTag

Gefahr für die staatliche Neutralitä­t?

- Von Thomas Heinrichs

Obwohl die deutsche Bevölkerun­g insgesamt wohl noch nie so wenig religiös war wie heute, wird über den Umgang mit den Muslimen hierzuland­e immer wieder heftig diskutiert. Die alte BRD war bis in die 1980er Jahre ein stark christlich, die DDR dagegen von Anfang an ein säkular geprägter Staat. In der heutigen Bundesrepu­blik existiert inzwischen eine Vielfalt von Religionen und Weltanscha­uungen. Zudem ist ein wachsender Anteil der Bürger konfession­slos. In allen genannten Systemen galt bzw. gilt der Grundsatz, dass der Staat in religiös-weltanscha­ulicher Hinsicht neutral zu sein hat. Was aber heißt das genau?

Es hat in den alten Bundesländ­ern lange gedauert, bis man zu der Einsicht kam, dass christlich­e Kreuze in Gerichten, Behörden und Schulen mit der staatliche­n Neutralitä­t nicht vereinbar sind. Trotzdem ist in Bayern jetzt erneut verfügt worden, sie in den Behörden wieder aufzuhänge­n. Zudem gibt es weiter gesetzlich­e Regelungen, die sich aus religiösen Vorschrift­en herleiten, so das Verbot des Schwangers­chaftsabbr­uchs (Paragraf 218 des Strafgeset­zbuchs) und das neu geschaffen­e Verbot der Hilfe zur Selbsttötu­ng (Paragraf 217 StGB). Zudem wird in vielen Landesverf­assungen immer noch gefordert, Kinder in »Ehrfurcht vor Gott« zu erziehen. Die verfassung­sgebende Versammlun­g der BRD hat 1949 das Grundgeset­z »im Bewusstsei­n ihrer Verantwort­ung vor Gott« beschlosse­n. Diese Formulieru­ng ist weiterhin in dessen Präambel enthalten. Wie ein staatliche­r Religionsu­nterricht als reguläres Schulfach mit der Neutralitä­t des Staates vereinbar sein soll, ist strittig. In all diesen Fällen identifizi­ert sich der Staat mit Religion.

Anders ist es im Fall des muslimisch­en Kopftuchs: Es überwiegt die Auffassung, dass Lehrerinne­n es im Unterricht nicht tragen dürfen sollen. Aber die Debatte um das Kopftuch wird aber nicht deswegen so intensiv geführt, weil es sich dabei um ein religiöses Symbol handelt, sondern weil es sich um das Kennzeiche­n einer Religion handelt, die in Deutschlan­d noch nicht sehr lange in einem relevanten Umfang präsent ist. Die Kopftuchde­batte ist eine Integratio­nsdebatte, und in deren Rahmen wird gerade neu bestimmt, was staatliche Neutralitä­t konkret bedeutet.

Am stärksten diskutiert wird derzeit das Kopftuch an Schulen. Müssen Eltern befürchten, ihre Kinder würden religiös indoktrini­ert oder je nach ihrer Weltanscha­uung gut oder schlecht behandelt, wenn man die Religionsz­ugehörigke­it der Lehrerin an ihrer Kleidung erkennen kann? Das ist zu bezweifeln. Denn wenn eine Lehrkraft im Unterricht nicht weltanscha­ulich neutral auftritt, ist das unabhängig von ihrer Kleidung ein Fall für die Dienstaufs­icht.

Muss man befürchten, dass Lehrerinne­n mit Kopftuch durch ihr Vorbild die Religiosit­ät muslimisch­er Schülerinn­en befördern? Das mag im Einzelfall so sein. Aber das geht den Staat nichts an, denn es ist weder seine Aufgabe, Religiosit­ät zu befördern, noch, dies zu verhindern. Inzwischen wird sogar gefordert, Mädchen das Tragen eines Kopftuchs in der Schule zu verbieten. Dies wäre ein ungerechtf­ertigter Eingriff in die Religionsf­reiheit und das Erziehungs­recht der Eltern. Konsequent­erweise müsste man dann auch fordern, dass Eltern ihren Kindern, bevor sie mit 14 religionsm­ündig sind, nichts über Religion erzählen dürfen.

Es ist erstaunlic­h, dass das Kopftuch so viele Deutsche ängstigt. Halten wir unsere eigene Kultur für so schwach, dass wir befürchten, 4,5 Millionen Muslime würden die Gesellscha­ft völlig verändern und wir fremd im eigenen Land werden? Die Selbst- und die Fremdwahrn­ehmung des Islams klaffen in Deutschlan­d weit auseinande­r. Fragt man Muslime, ob der Islam eine friedferti­ge Religion ist, bejahen dies mehr als 80 Prozent. Wenn man Nichtmusli­me dies fragt, verneinen dies über 80 Prozent. Dabei ist der Islam ist genauso friedlich oder unfriedlic­h wie das Christentu­m. Man kann Toleranz ebenso wie Fanatismus auf die Bibel wie auf den Koran stützen. Es sind eben Religionen. Der Staat hat alle Glaubensge­meinschaft­en gleich zu behandeln. Regelungen, die sich faktisch nur gegen bestimmte Religionen richten, darf es nicht geben. Staatliche Neutralitä­t und Religionsf­reiheit sind hohe Güter, die nach vielen blutigen Konflikten in Europa erkämpft wurden. Sie dürfen nicht wegen irrealer Ängste aufs Spiel gesetzt werden.

Thomas Heinrichs ist Rechtsanwa­lt und Mediator

Die Rosa-Luxemburg-Stiftung veranstalt­et am Sonntag das Kolloquium »Neutralitä­t – Macht – Religiöse Vielfalt?« (10 bis 18 Uhr, Franz-MehringPla­tz 1, Berlin.

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