Gefahr für die staatliche Neutralität?
Obwohl die deutsche Bevölkerung insgesamt wohl noch nie so wenig religiös war wie heute, wird über den Umgang mit den Muslimen hierzulande immer wieder heftig diskutiert. Die alte BRD war bis in die 1980er Jahre ein stark christlich, die DDR dagegen von Anfang an ein säkular geprägter Staat. In der heutigen Bundesrepublik existiert inzwischen eine Vielfalt von Religionen und Weltanschauungen. Zudem ist ein wachsender Anteil der Bürger konfessionslos. In allen genannten Systemen galt bzw. gilt der Grundsatz, dass der Staat in religiös-weltanschaulicher Hinsicht neutral zu sein hat. Was aber heißt das genau?
Es hat in den alten Bundesländern lange gedauert, bis man zu der Einsicht kam, dass christliche Kreuze in Gerichten, Behörden und Schulen mit der staatlichen Neutralität nicht vereinbar sind. Trotzdem ist in Bayern jetzt erneut verfügt worden, sie in den Behörden wieder aufzuhängen. Zudem gibt es weiter gesetzliche Regelungen, die sich aus religiösen Vorschriften herleiten, so das Verbot des Schwangerschaftsabbruchs (Paragraf 218 des Strafgesetzbuchs) und das neu geschaffene Verbot der Hilfe zur Selbsttötung (Paragraf 217 StGB). Zudem wird in vielen Landesverfassungen immer noch gefordert, Kinder in »Ehrfurcht vor Gott« zu erziehen. Die verfassungsgebende Versammlung der BRD hat 1949 das Grundgesetz »im Bewusstsein ihrer Verantwortung vor Gott« beschlossen. Diese Formulierung ist weiterhin in dessen Präambel enthalten. Wie ein staatlicher Religionsunterricht als reguläres Schulfach mit der Neutralität des Staates vereinbar sein soll, ist strittig. In all diesen Fällen identifiziert sich der Staat mit Religion.
Anders ist es im Fall des muslimischen Kopftuchs: Es überwiegt die Auffassung, dass Lehrerinnen es im Unterricht nicht tragen dürfen sollen. Aber die Debatte um das Kopftuch wird aber nicht deswegen so intensiv geführt, weil es sich dabei um ein religiöses Symbol handelt, sondern weil es sich um das Kennzeichen einer Religion handelt, die in Deutschland noch nicht sehr lange in einem relevanten Umfang präsent ist. Die Kopftuchdebatte ist eine Integrationsdebatte, und in deren Rahmen wird gerade neu bestimmt, was staatliche Neutralität konkret bedeutet.
Am stärksten diskutiert wird derzeit das Kopftuch an Schulen. Müssen Eltern befürchten, ihre Kinder würden religiös indoktriniert oder je nach ihrer Weltanschauung gut oder schlecht behandelt, wenn man die Religionszugehörigkeit der Lehrerin an ihrer Kleidung erkennen kann? Das ist zu bezweifeln. Denn wenn eine Lehrkraft im Unterricht nicht weltanschaulich neutral auftritt, ist das unabhängig von ihrer Kleidung ein Fall für die Dienstaufsicht.
Muss man befürchten, dass Lehrerinnen mit Kopftuch durch ihr Vorbild die Religiosität muslimischer Schülerinnen befördern? Das mag im Einzelfall so sein. Aber das geht den Staat nichts an, denn es ist weder seine Aufgabe, Religiosität zu befördern, noch, dies zu verhindern. Inzwischen wird sogar gefordert, Mädchen das Tragen eines Kopftuchs in der Schule zu verbieten. Dies wäre ein ungerechtfertigter Eingriff in die Religionsfreiheit und das Erziehungsrecht der Eltern. Konsequenterweise müsste man dann auch fordern, dass Eltern ihren Kindern, bevor sie mit 14 religionsmündig sind, nichts über Religion erzählen dürfen.
Es ist erstaunlich, dass das Kopftuch so viele Deutsche ängstigt. Halten wir unsere eigene Kultur für so schwach, dass wir befürchten, 4,5 Millionen Muslime würden die Gesellschaft völlig verändern und wir fremd im eigenen Land werden? Die Selbst- und die Fremdwahrnehmung des Islams klaffen in Deutschland weit auseinander. Fragt man Muslime, ob der Islam eine friedfertige Religion ist, bejahen dies mehr als 80 Prozent. Wenn man Nichtmuslime dies fragt, verneinen dies über 80 Prozent. Dabei ist der Islam ist genauso friedlich oder unfriedlich wie das Christentum. Man kann Toleranz ebenso wie Fanatismus auf die Bibel wie auf den Koran stützen. Es sind eben Religionen. Der Staat hat alle Glaubensgemeinschaften gleich zu behandeln. Regelungen, die sich faktisch nur gegen bestimmte Religionen richten, darf es nicht geben. Staatliche Neutralität und Religionsfreiheit sind hohe Güter, die nach vielen blutigen Konflikten in Europa erkämpft wurden. Sie dürfen nicht wegen irrealer Ängste aufs Spiel gesetzt werden.
Thomas Heinrichs ist Rechtsanwalt und Mediator
Die Rosa-Luxemburg-Stiftung veranstaltet am Sonntag das Kolloquium »Neutralität – Macht – Religiöse Vielfalt?« (10 bis 18 Uhr, Franz-MehringPlatz 1, Berlin.