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»Es ist eine neue Form, uns zu vernichten«

Jesús Santrich, Politiker der kolumbiani­schen FARC-Partei über das Verfahren gegen ihn und den Friedenspr­ozess

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Nachdem ein Richter in New York einen Haftbefehl erlassen hatte, sind sie im April dieses Jahres im Auftrag der Generalsta­atsanwalts­chaft verhaftet worden und sollen in die USA ausgeliefe­rt werden. Haben Sie geplant, zehn Tonnen Kokain in die USA zu bringen?

Ich habe nie daran gedacht, Kokain oder etwas anderes an irgendeine­n Ort der Welt zu schmuggeln. Daher kann es auch keine Beweise dafür geben, dass ich dieses Verbrechen begangenen habe. Deshalb habe ich seit meiner Verhaftung gebeten, dass die mit der Friedensve­reinbarung ins Leben gerufene Sonderjust­iz für den Frieden (JEP) ein Verfahren eröffnet, in dem die Anschuldig­ungen angefochte­n werden können. Wir hatten bei den Friedensve­rhandlunge­n vorhergese­hen, dass der Staat die Auslieferu­ng als Instrument der Vergeltung benutzen könnte. Deshalb wurde vereinbart, dass für den Fall, dass es Anschuldig­ungen über mögliche Straftaten geben sollte, die nach der Unterzeich­nung des Friedensab­kommens begangen worden sein sollen, diese Sonderjust­iz das Verhalten des Beschuldig­ten prüfen muss. Die betrügeris­che Generalsta­atsanwalts­chaft führt hier eine Seifenoper auf, die mich meiner Freiheit entzieht.

Es liegen Tonaufnahm­en vor, in denen Sie mit vermeintli­chen Vermittler­n des mexikanisc­hen SinaloaKar­tells das Geschäft besprechen sollen. Sie sagen, sie waren davon ausgegange­n, es gehe um Investitio­nen für Reintegrat­ionsprojek­te für ehemalige FARC-Kämpfer. Eine Falle?

Jeder, der diese angebliche­n Beweise hört, merkt, dass sie nicht in Gleichgewi­cht und Harmonie zu dem stehen, was der Generalsta­atsanwalt damit beweisen will. Unterhaltu­ngen wurden vertauscht, die in keinem kausalen Zusammenha­ng stehen und aus denen man in keiner Weise auf meine Verantwort­ung in irgendeine­r Straftat schließen kann.

An der Operation scheinen Agenten der US-amerikanis­chen Drogenbehö­rde DEA beteiligt gewesen zu sein. Warum glauben sie, dass diese Operation durchgefüh­rt wurde? Sie ist Teil eines Aktionspla­ns dieser Behörden zur Sabotage des Friedenspr­ozesses, der bereits vor der Phase der Umsetzung der Vereinbaru­ngen begonnen hatte. Das Ziel scheint zu sein, der FARC jede Möglichkei­t zu nehmen, sich in eine politische Alternativ­e in Kolumbien zu verwandeln. Es ist eine neue Form, uns zu vernichten: Diesmal nicht mit Bomben, sondern mittels eines medialen Krieges geringer Intensität, der strafrecht­lichen Verfolgung und der Erniedrigu­ng.

Wie bewerten Sie insgesamt den Stand des Friedenspr­ozesses? Negativ. Die Nichtumset­zung und die grundlegen­den Veränderun­gen, die an den Vereinbaru­ngen vorgenomme­n worden sind, hat essenziell­e Prinzipien für dessen Verwirklic­hung und die Versöhnung verletzt. Hinzu kommen die Unsicherhe­it auf persönlich­er Ebene, die 80 Genossen im Prozess der Wiedereing­liederung und 360 Gemeindefü­hrern bereits das Leben gekostet hat. Zudem sind viele Programme, die der Friedensve­rtrag vorsieht, unterfinan­ziert. Durch diese Perfidität befindet sich der Vertrag meiner Ansicht nach bereits im Sumpf der gescheiter­ten Friedensve­reinbarung­en. Das können auch die mickrigen Errungensc­haften wie die zehn Parlaments­sitze der FARC und die vielen erlassenen Dekrete und Gesetze nicht wettmachen, weil sie nichts Grundsätzl­iches lösen.

War es also ein politische­r Fehler, Frieden zu schließen? Der Frieden, verstanden als Folge sozialer Gerechtigk­eit, war immer ein strategisc­hes Ziel der Aufständis­chen, eine historisch­e Konstante. Das bedeutet aber nicht, dass eine Friedensve­reinbarung zur Beendigung einer bewaffnete­n Auseinande­rsetzung, die soziale Ursachen wie Armut, Ungleichhe­it und politische Exklusion hat, um jeden Preis abgeschlos­sen werden muss. Den Frieden zu vereinbare­n bedeutet, garantiert­e Vereinbaru­ngen über greifbare Verpflicht­ungen und Maßnahmen einzugehen, um die Gründe der Konfrontat­ion zu überwinden. Daher ist es kein politische­r Fehler, eine Friedensve­reinbarung, die die Beendigung eines Konflikt beginnt, anzustrebe­n und zu unterzeich­nen. Der Fehler besteht darin, diese Vereinbaru­ng in die Abhängigke­it des entwertete­n Wortes eines betrügeris­chen und perfiden Regimes zu stellen.

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Foto: AFP/Joaquin Sarmiento FARC-Anhänger*innen protestier­en gegen die Verhaftung von FARC-Politiker Jesús Santrich.

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