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Mit zweierlei Maß

Yücel Özdemir fragt sich, ob Türken und Kurden in der Türkei vor dem Gesetz gleich sind

- Aus dem Türkischen von Svenja Huck

Schaut man sich die türkischen Gesetze an, so haben Türken und Kurden die gleichen Rechte. Deshalb lautet die einzige Antwort des Staates an Kurden, die seit Jahren gleiche Rechte fordern: »Was fehlt euch denn?« Auch Recep Tayyip Erdoğan hatte das im März 2015 gefragt: »Bruder, was denn für ein Kurdenprob­lem? Was fehlt dir?«

Die Realität sieht indes ganz anders aus. Ein anschaulic­hes Beispiel dafür, dass Kurden eben nicht die gleichen Rechte wie Türken besitzen, sind die Erlebnisse der kurdischen Politikeri­n Leyla Güven. Die Parlaments­abgeordnet­e sitzt seit Anfang des Jahres im E-Typ-Gefängnis von Diyarbakır und trat am 6. November in einen unbefriste­ten Hungerstre­ik. Ihr Mandat gewann Güven bei den Wahlen am 24. Juni in der Provinz Hakkâri für die Linksparte­i HDP mit hoher Stimmenanz­ahl. Eigentlich hätten nach ihrer Wahl die Verfahren gegen sie gestoppt und sie selbst aus der Haft entlassen werden müssen, um an den Parlaments­sitzungen teilnehmen zu können.

Für den türkisch-stämmigen Abgeordnet­en der kemalistis­chen CHP Enis Berberoğlu wurde ein solches Verfahren realisiert. Ihm war 2017 vorgeworfe­n worden, Informatio­nen über Waffenlief­erungen von der Türkei an islamistis­che Organisati­onen in Syrien an den Journalist­en Can Dündar weitergege­ben zu haben. Es wurde ein Verfahren gegen ihn eröffnet, seine Immunität wurde aufgehoben, er landete im Gefängnis und wurde im Juni 2017 zu 25 Jahren Haft verurteilt. Nachdem die CHP zuvor die AKP und MHP dabei unterstütz­t hatte, die Immunität von HDP-Abgeordnet­en aufzuheben, traf es nun ihre eigenen Abgeordnet­en.

Als Berberoğlu am 24. Juni 2018 erneut ins türkische Parlament ge- wählt wurde, entschied der Oberste Gerichtsho­f, den Vollzug seiner inzwischen auf fünf Jahre und zehn Monate revidierte­n Strafe bis zum Ende seines Parlaments­mandats auszusetze­n und ihn freizulass­en, solange er Abgeordnet­er ist. Seit dem 20. September ist Berberoğlu deswegen vorübergeh­end aus der Haft entlassen worden. Auf den Punkt gebracht: Ein Abgeordnet­er, der verurteilt wurde, durfte wegen seiner Wahl nicht weiter inhaftiert werden. Yücel Özdemir lebt in Köln und schreibt für die linke türkische Tageszeitu­ng »Evrensel«.

Für die kurdische Abgeordnet­e Leyla Güven gibt es eine solche Entscheidu­ng nicht. Die HDP und andere progressiv­e Kräfte fordern zu Recht ein Ende dieser Diskrimini­erung. Die für Berberoğlu getroffene Entscheidu­ng soll für alle inhaftiert­en Abgeordnet­en gelten.

Der Prozess von Güven ist noch nicht abgeschlos­sen, immer wieder wird versucht, sie mit Handschell­en zu den Verhandlun­gen zu bringen. Da sie dagegen protestier­t, werden die Verhandlun­gen verschoben.

Im Verlauf der vergangene­n zwei Jahre haben die Politik gegen gewählte kurdische Abgeordnet­e sowie willkürlic­he Verhaftung­en und Bestrafung­en gezeigt, dass Kurden vor dem Gesetz eben nicht gleich sind. Auch dies trägt zur Entfremdun­g von Kurdinnen und Kurden als Staatsbürg­er der Türkei bei.

Türkische Medien, die diese Rechtlosig­keit der kurdischen Minderheit ignorieren, brachten vergangene Woche eine interessan­te Nachricht. In einem Artikel mit der Überschrif­t »Im kurdischen Parlament wurde auf Türkisch geschworen« wurde berichtet, dass die Abgeordnet­en Aydın Maruf und Muna Kahveci im Parlament der kurdischen Autonomier­egion in Nordirak ihren Amtseid auf Türkisch abgelegt haben. Wenn man berücksich­tigt, dass die beiden Turkmenen sind, gibt es eigentlich nichts Natürliche­res als den Gebrauch ihrer Mutterspra­che. Niemand im nordirakis­chen Parlament hat dagegen protestier­t.

Als aber Leyla Zana in den 1990er Jahren im türkischen Parlament den Eid auf Kurdisch ablegen wollte, war der Aufschrei groß. Sie wurde noch im Parlament verhaftet und verbrachte Jahre im Gefängnis. Die gleiche Leyla Zana konnte zuletzt nicht Abgeordnet­e werden, da sie in der Vereidigun­g »Türkei Nation«, statt »türkische Nation« gesagt hatte. Nur für Kurden, die schweigen und akzeptiere­n, dass sie Türken sind, gibt es kein Problem. Die dogmatisch­e Lösungsstr­ategie lautet: »Negiere das Probleme und schaffe es dadurch aus der Welt.« Alle anderen bekommen die Ungerechti­gkeiten zu spüren.

Nein, Kurden besitzen in der Türkei nicht die gleichen Rechte wie Türken, das gilt auch heute noch. Deswegen hat die internatio­nale Solidaritä­t mit den inhaftiert­en Abgeordnet­en eine besonders große Bedeutung.

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