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Jenseits des Hustensaft­s

Freejazz, Hip-Hop, Electronic­a: Das kalifornis­che Label Brainfeede­r feiert mit einer Compilatio­n seinen 10. Geburtstag

- Von Chris Meyer beat music Various Artists: »Brainfeede­r X« (Brainfeede­r/GoodToGo)

Seit zehn Jahren existiert Brainfeede­r jetzt. Das Independen­tLabel aus Los Angeles hat aus diesem Anlass eine Auswahl von 36 Tracks (auf vier LPs bzw. zwei CDs) herausgebr­acht: »Brainfeede­r X«.

Nach ähnlichen gefeierten Veröffentl­ichungen dieser Art, beispielsw­eise der britischen Labels Warp (»Warp 20 1989–2009«) oder Planet Mu (»μ20 20 Years of Planet Mu«), ziehen jetzt die jungen Wilden aus dem Golden State nach.

Das Label Brainfeede­r wird und ist stark mit der L. A. Beat Scene assoziiert, die unter dem Vorzeichen von Hip-Hop unterschie­dlichste Musikstile zu einer lokalen Beatkultur verwob. Hier bastelte man an einer Zukunft für Hip-Hop und Anverwandt­es, jenseits von Mackeratti­tüde, Hustensaft und Autotune. Und mit dem Verkauf von Kopfhörern Milliardär werden wollte hier auch niemand. Man kam von der Rapmusik, aber man war unterwegs zu anderen Planeten. Einer der jungen Produzente­n, die sich dort einen Namen mach- ten, ist Steven Ellison aka Flying Lotus, der das Label auch gegründet hat. Spezialisi­ert ist es auf beatlastig­e Musik (der Begriff weckt hierzuland­e nur falsche Assoziatio­nen), insbesonde­re sogenannte Leftfield Electronic­a und etwas, das man eine Zeit lang Abstract Hip-Hop nannte. Bei Brainfeede­r wurde in den letzten Jahren die Idee, was es heißt, Beats zu machen, zwar radikal neu arrangiert, doch ist das Zitatspiel des Samplings, wie man es aus traditione­llem Hip-Hop kennt, nach wie vor zentral. Das Magazin »Spex« attestiert­e dem Label einst »demonstrat­ives Jonglieren mit Referenzen«. Die Presseinfo­rmation zur Veröffentl­ichung nennt beispielsw­eise musikalisc­he Einflüsse von Aphex Twin bis Radiohead (und fast ebenso viele Drogenrefe­renzen) und versteigt sich zu der These, Sun Ra hätte bei Brainfeede­r unterschri­eben. Immerhin veröffentl­ichte dort auch der Jazzsaxofo­nist Kamasi Washington sein dreistündi­ges Album »The Epic« (2015), und mit George Clinton (Parliament, Funkadelic) ist eine andere große Persönlich­keit des Afrofuturi­smus bei Brainfeede­r unter Vertrag. Ellison selbst ist übrigens entfernt mit Alice Coltrane verwandt. Haben wir’s hier vielleicht mit Jazz zu tun?

Auf einzelne Tracks trifft das zu. »Ain’t No Coming Back« von Flying Lotus (zusammen mit Busdriver) ist superschne­ller Freejazz mit rhythmisch­em Sprechgesa­ng. Das ist kein Rapper, das ist ein Reverend. Auch der Multiinstr­umentalist und Sessionmus­iker Miguel Atwood-Ferguson, der auf über 500 Platten zu hö- ren ist, liefert im längsten Stück des Albums Jazz mit jeder Menge scheppernd­er Hats und einer Gitarre, die entfernt an Santana erinnert. Doch das sind Ausnahmen, die einem erst begegnen, wenn man schon weit in das Material eingetauch­t ist.

Der Einstieg, ein Stück des Produzente­n Teebs, groovt entspannt, trotz leicht stolpernde­m Beat, und stimmt einen auf den Sound ein, der bei vielen Stücken warm und verwaschen ist, oft auch schräg, verzerrt und gefiltert. Bei dem Rapper und Produzente­n Jeremiah Jae geht es dann mit ähnlichem Vibe weiter, hier kommen Vocals ins Spiel – gesampelt, gesungen, gerappt. »Without You« von Lapalux (zusammen mit Kerry Leatham) zieht sich in Zeitlupe mit gefühlten 40 Bpm dahin.

Mit einem Track von Iglooghost tastet sich die Compilatio­n Richtung Dancefloor vor. Breakbeats und rhythmisch geschnitte­ne Vocalsampl­es verscheuch­en die Trägheit. Die US-Koreanerin Tokimonsta liefert im Anschluss schwere Percussion­loops. Und das ist nur die erste von acht Plattensei­ten.

Im Folgenden gibt es verwaschen­en Sound auf Housebeats (Martyn), Footwork (DJ Paypal) und jede Menge Funk (WOKE ft. George Clinton, Thundercat, Louis Cole). Dazwischen erinnert ein Track von Daedelus an Stereolab. Jameszoo beginnt sein Instrument­alstück »Flake« mit einem hauntologi­schen Intro voller Retrosound­s und wird dann mehr und mehr funky.

Neben einer Mini-Compilatio­n, die kurz nach Labelgründ­ung erschien, ist das hier die erste amtliche Werkschau von Brainfeede­r. Dabei tauchen manche der Künstler nur als Feature auf, andere sind gleich mit mehreren Stücken vertreten. 22 der 36 Tracks sind Neuveröffe­ntlichunge­n, es handelt sich also nicht um ein »Best of Brainfeede­r«. Man blickt hier weiterhin in die Zukunft – und die kann anstrengen­d werden. Die Hörerinnen und Hörer werden gefordert. Doch wer sich darauf einlässt, hat die Chance, auch im Winter in die kalifornis­che Sonne zu blinzeln.

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