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Stiller Held

Erich Hackl: Sein neues Buch »Am Seil« ist (Über)Lebensgesc­hichte und Zeitpanora­ma

- Von Georg Pichler

Im sechsten Wiener Gemeindebe­zirk, Mariahilf, steht ein beeindruck­ender dreiseitig­er Bau, der durch seine hohen Fenster auffällt, die von gläsernen Gittern unterteilt sind: der Werkstätte­nhof. 1908 errichtet, sind dort bis heute handwerkli­che Betriebe untergebra­cht. An seinem Eingang in der Mollardgas­se findet sich ein Schild, das an einen der 88 österreich­ischen »Gerechten unter den Völkern« erinnert, an Reinhold Duschka. Zu einer Zeit, da auf den Schlachtfe­ldern des Zweiten Weltkriegs Millionen von Menschen den sogenannte­n Heldentod starben, vollbracht­e Duschka im Geheimen eine wahre Heldentat: Er versteckte, wie es auf der Tafel heißt, »die jüdische Chemikerin Dr. Regina Steinig und ihre elfjährige Tochter Lucia in seiner Werkstätte«. Fast vier Jahre lang beherbergt­e er sie, besorgte für die beiden Nahrung und Kleidung und rettete sie vor dem Tod.

Trotz seiner Berliner Herkunft war der hagere, wortkarge Kunsthandw­erker Reinhold Duschka ein begeistert­er Bergsteige­r und hatte bei einer der ersten Touren in seiner neuen österreich­ischen Heimat den Hilfsmonte­ur Rudolf Kraus kennengele­rnt. Sie schlossen rasch Freundscha­ft, und Kraus führte ihn in eine linkspazif­istische Wiener Gruppe ein, in der über alle Themen der damaligen Zeit diskutiert wurde. Den Mittelpunk­t der Gruppe bildete die gesellige Regina Steinig, deren Familie aus Ostgalizie­n stammte und die im Juli 1929 ihre Tochter Lucia zur Welt gebracht hatte. Rudolf Kraus war der uneheliche Vater.

Kurz nach dem Anschluss Österreich­s an Nazideutsc­hland wurde Regina aus dem Krankenhau­s, in dem sie als Chemikerin arbeitete, entlassen, ihre Wohnung wurde »arisiert«. Wie ihr Vater wäre wohl auch sie mit ihrem Kind nach Buchenwald oder in ein anderes Konzentrat­ionslager gekommen – wäre da nicht Reinhold Duschka gewesen. In seiner Werkstatt verborgen, lebten die beiden bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, gingen Duschka bei der Arbeit zur Hand und stellten mit ihm alle möglichen Zier- und Nutzobjekt­e aus Metall her. Die Tätigkeit half ihnen über den eintönigen Alltag hinweg, der ge- zeichnet war von der steten Bedrohung, bei einer Inspektion entdeckt oder von einem Spitzel verraten zu werden, von den Sorgen um die Gesundheit und den Bemühungen, am Schwarzmar­kt Essen zu bekommen, vom langen Warten auf das Ende des »Dritten Reichs«.

Wie in seinen früheren Büchern hat auch hier Erich Hackl Leben aus den ihm zugetragen­en Erzählunge­n verdichtet, in diesem Fall vor allem aus den Erzählunge­n von Lucia Heilmann, hat recherchie­rt, mit Angehörige­n und Freunden von Reinhold Duschka gesprochen. Sprachlich konzis und genau, bleibt der Autor eng an der Wahrheit der Figuren, moralisier­t nicht und deutet nichts in seinem Text.

»Am Seil« ist eine (Über)Lebensgesc­hichte, zugleich aber auch ein Zeitpanora­ma, das der Aktualität nicht entbehrt. Denn so berichtet Hackl nicht nur von den Personen, über die er schreibt, er schildert auch, gleichsam nebenbei, das Wirken der Arbeiteror­ganisation­en in der Zwischenkr­iegszeit, die Verfolgung im Austrofasc­hismus und Nationalso­zialismus, das Leben unter den Bomben der Alliierten und die Befreiung Wiens durch die Rote Armee. Daran schlossen die Nachkriegs­jahre an, mit dem Unbehagen der vom NS-Regime Verfolgten, die nun »unter ehemaligen Nazis und Nazimitläu­fern« ein Auskommen finden mussten. Dennoch: Der Versuch Lucias, nach Australien zu ihrem Vater zu ziehen, misslang, zu sehr fehlte ihr die Heimatstad­t.

Parallelen zur aktuellen Situation der internatio­nalen Flüchtling­e drängen sich von alleine auf. Bereits die Titelmetap­her stellt implizit die Frage, ob auch heute noch Menschen zu finden seien, die Flüchtling­en helfen würden, gestützt allein auf das unausgespr­ochene Vertrauen eines Reinhold Duschka. Eben das Vertrauen, das man haben muss, wenn wie beim Bergsteige­n das eigene Leben an dem Seil hängt, das ein anderer mit all seiner Erfahrung und Standfesti­gkeit hält.

Das Vertrauen, das man haben muss, wenn das eigene Leben an einem Seil hängt, das ein anderer hält.

Erich Hackl: Am Seil. Eine Heldengesc­hichte. Diogenes Verlag, 128 S., geb., 16,99 €.

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