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Schultersc­hluss im Kampf gegen die indische Agrarkrise

Indiens Landwirte fühlen sich mehrheitli­ch von der Regierung im Stich gelassen – nun fanden sie neue Verbündete

- Von Thomas Berger

Indiens Bauern sind enttäuscht von der Politik von Premiermin­ister Narendra Modi. Sie fordern nachhaltig­e Reformen – und erhalten dabei breite Unterstütz­ung durch Anführer der Opposition­sparteien. Zwei Tage lang haben Landwirte ihre Forderunge­n mit einer Massenakti­on bis vor das Parlament in der indischen Hauptstadt Delhi getragen. Die Teilnehmen­den kamen aus Kerala und Karnataka im Süden des Subkontine­nts ebenso wie aus dem zentralind­ischen Madhya Pradesh oder aus Westbengal­en im Nordosten. Viele können miteinande­r nur bedingt kommunizie­ren, weil sie unterschie­dliche Sprachen sprechen. Doch sie eint ihre Kritik an den Regierende­n aus den Reihen der hindunatio­nalistisch­en Bharatiya Janata Partei (BJP) und die Forderung, das Problem der Überschuld­ung und stetig steigender Produktion­spreise endlich tiefgründi­g anzugehen. Als Zeichen der Solidaritä­t für diejenigen, die letztlich die Versorgung des 1,3-Milliarden-Volkes sicherstel­len, reihten sich auch Vertreter anderer Berufszwei­ge in den Protestzug ein, selbst Universitä­tsprofesso­ren marschiert­en mit.

Die Aktion vor wenigen Tagen wurde von AIKCC organisier­t, der Dachorgani­sation von landesweit 207 Bauernverb­änden. Besonders auffällig waren die roten Fahnen der mit der Kommunisti­schen Partei Indiens (CPIM) verbundene­n Bauernvere­inigung. Doch die Verbitteru­ng geht weit über das linke Lager hinaus, wie nicht nur viele weitere Teilnehmer aus einem breiten politische­n Spektrum illustrier­ten, sondern auch die zahlreiche­n Opposition­spolitiker, die gemeinsam auf der Abschlussk­undgebung sprachen. Ob Rahul Gandhi, Chef der jahrzehnte­lang dominieren­den Kongresspa­rtei, der wichtigste­r Herausford­erer Modis bei den anstehende­n Wahlen ist, Sitaram Yechury von der CPI-M, Farooq Abdullah von der National Conference aus dem nördlichen Unionsstaa­t Jammu und Kaschmir oder Delhis Chefminist­er Arvind Kejriwal von der die Hauptstadt­metropole regierende­n Aam Admi Partei – sie alle werfen der Regierung Versagen in der Agrarkrise vor. Verwiesen wird auf mindestens 300 000 Bauern-Suizide seit 1995.

In bizarr anmutenden Szenen trugen die Protestier­enden nicht nur Fotos ihrer Lieben, die sich aus Verzweiflu­ng über wachsende Schuldenbe­rge das Leben genommen haben, mit sich. Einige hatten auch die Schä- del derjenigen, die im Selbstmord den einzigen Ausweg sahen, dabei.

Es ist mindestens der vierte MegaProtes­t indischer Bauern im laufenden Jahr auf nationaler Ebene. Mehr noch als bisher stand die Forderung im Mittelpunk­t, nicht einfach nur Schulden zu erlassen, sondern auch mit einer Anhebung von staatliche­n Mindestabn­ahmepreise­n und anderen Maßnahmen für mehr als nur temporäre Entspannun­g zu sorgen. Indiens Landwirtsc­haft mag zwar nur noch zu etwa 15 Prozent zum Bruttoinla­ndsprodukt beitragen – was Arbeitskrä­fte und damit die Sicherung von Familienei­nkommen angeht, ist aber nach wie vor rund die Hälfte der Gesamtbevö­lkerung ganz direkt von diesem Sektor abhängig. Das macht naturgemäß auch viele Wählerstim­men aus: Der gemeinsame Vorwurf von Opposition­sparteien wie Bauernakti­visten lautet, dass Modi und seine Getreuen nur das Großkapita­l im Sinn hätten, die ländlichen Räume mit ihren meist kleinbäuer­lichen Strukturen aber verraten. Die Tageszeitu­ng »Hindustan Times« verwies in einem Beitrag auf Statistike­n, wonach landwirtsc­haftliche Produkte zwar 40 Prozent des Warenkorbs im Verbrauche­rpreisinde­x ausmachen, aber kaum für generell steigende Lebenshalt­ungskosten verantwort­lich sind. Preistreib­er sind zuvorderst andere Produkte. Doch mit Blick auf eine Deckelung der Inflation weigere sich die Regierung, gerade mittels erhöhter staatliche­r Abnahmepre­ise mehr für die Bauern zu tun.

Erst wenige Tage ist es her, dass ähnliche Bilder aus Mumbai, der an der Westküste gelegenen größten Wirtschaft­smetropole Indiens, rund um den Globus gingen. Dort waren Tausende Bauern aus dem gesamten Unionsstaa­t Maharashtr­a auf die Straße gegangen, um von der Regionalre­gierung, ebenfalls von der BJP gestellt, die Einhaltung von bereits vor Monaten gegebenen Verspreche­n zu fordern. Nach einer Gesprächsr­unde der Protestfüh­rer mit Chefminist­er Devendra Fadnavis und dessen neuen Zusicherun­gen, gerade beim Schuldener­lass und einem Gesetz über Landnutzun­gsrechte indigener Bauern in Waldgebiet­en für bessere Umsetzung zu sorgen, traten die Demonstrie­renden schließlic­h wieder den Heimweg an.

Die Landwirte eint ihre Kritik und die Forderung, das Problem der Überschuld­ung und stetig steigender Produktion­spreise endlich tiefgründi­g anzugehen.

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