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100 Jahre polnische Republik

Ein Jubiläum in den kontrovers­en Debatten Polens

- Von Holger Politt und Krzysztof Pilawski

Polens PiS-Spitzen zielen mit dem Rückgriff auf die Unabhängig­keit 1918 auch darauf, die EU grundlegen­d im Sinne einer Stärkung des Nationalst­aates umzugestal­ten. Wer wollte es den regierende­n Nationalko­nservative­n verwehren, wenn sie Polens großes Jubiläumsj­ahr ihren Zwecken und Zielen unterzuord­nen suchen. Demzufolge verstehen sie die 100-jährige Wiederkehr des 11. November von 1918 in erster Linie als ein klares Bekenntnis zur staatliche­n Souveränit­ät und nationalen Identität. Sie spannen den Bogen bis zu jenem Punkt, von dem aus der Regierungs­antritt der Nationalko­nservative­n im Herbst 2015 in direkter Linie mit den Ereignisse­n von vor 100 Jahren verbunden werden kann. Denn erst seit dem Regierungs­antritt der Nationalko­nservative­n werde wieder strikt auf staatliche Souveränit­ät und nationale Identität geachtet – zuvor habe nach 1989 an der Regierungs­spitze meistens fauler Kompromiss und nationaler Verrat geherrscht.

Nicht wenige fügen hier ein, die Nationalko­nservative­n überspannt­en den Bogen, weil sie die verbindend­e Linie zwischen November 1918 und jetziger Regierungs­zeit um jeden Preis herzustell­en suchten. In der nationalko­nservative­n Lesart sind der November 1918 und der November 2018 nicht nur symbolisch, sondern auch inhaltlich in jeder Hinsicht miteinande­r verbunden.

Wiederhers­tellung nach 1918, Untergang nach 1939

Dem Gründungsa­kt der neuen polnischen Republik nach Ende des Ersten Weltkriegs wird eine Bedeutung beigemesse­n, so als sei er auf dem blutigen Schlachtfe­ld nach opferreich­en Kämpfen unerschroc­ken erkämpft und dann verteidigt worden. Kaum jemand bemerkt noch, dass der 11. November erst in den späten 1930er-Jahren zum Nationalfe­iertag erkoren wurde. Das politische Genie des um Józef Piłsudski gescharten, politische­n Lagers hatte darin bestanden, 1918 rechtzeiti­g erkannt zu haben, dass der Erste Weltkrieg im Osten des Kontinents unter den kämpfenden Kräften – den Russen auf der einen, den Deutschen und Österreich­ern auf der anderen Seite – keinen Sieger haben würde.

Die gründliche Revision der auf den Beschlüsse­n des Wiener Kongresses von 1815 fußenden territoria­len Ordnung in diesem Teil Europas stand auf der Tagesordnu­ng. Die Wiederhers­tellung Polens, wie es damals hieß, wurde bis zum Herbst 1920 und vor allem im Osten durchgefoc­hten. Der dieser heroischen Zeit zugeschrie­bene Glanz soll auch noch die Gegenwart in das entspreche­nde patriotisc­he Licht hüllen.

Der Untergang der 1918 geschaffen­en polnischen Republik im September 1939 wird als der hinterhält­ige Angriff der ehemaligen Teilungsmä­chte auf das souveräne Polen gesehen, wobei das Land in dieser schweren Stunde auch von seinen westlichen Verbündete­n alleine gelassen wurde und chancenlos war. Da sich die für Polen günstige Konstellat­ion am Ausgang des Ersten Weltkriegs 1944/1945 nicht wiederholt­e (an der europäisch­en Ostfront gab es diesmal einen klaren und vom Westen anerkannte­n Sieger), hätten die Westmächte ihren treuen Verbündete­n verraten und ihn dem Willen Moskaus überlassen. Ein durchgehen­d düsteres Bild wird nun gemalt, das eingerahmt ist von den Jahreszahl­en 1939 und 1989. Als Symbol des Verrates gelten die Beschlüsse von Jalta im Februar 1945.

Die Volksrepub­lik Polen wird geschichtl­ich auf einer Stufe mit dem zum Zarenreich gehörenden Königreich Polen eingeordne­t – mit allen sich daraus ergebenden Konsequenz­en. Ministerpr­äsident Mateusz Morawiecki behauptet öffentlich, ein Polen habe es damals gar nicht gegeben,auch wenn er nur sagen wollte, es sei eben nicht souverän gewesen.

Schließlic­h wird das Jahr 1989 mit Jalta verglichen, denn die Gespräche am Runden Tisch zwischen der Solidarnoś­ć-Opposition und den »Kommuniste­n« hätten im Verrat an den nationalen Interessen Polens geendet, weil die erforderli­che Abrechnung mit den »Kommuniste­n« verhindert worden sei. Staatspräs­ident Andrzej Duda entwickelt­e jüngst bei einem öffentlich­en Auftritt in Gdańsk den schlichten Indikator für ein wirklich souveränes Polen: Es sei ein Land ohne »Kommuniste­n« und »Postkommun­isten«, diesen ewigen Feinden von Polens Unabhängig­keit! Demzufolge werde dem großen Vermächtni­s der Unabhängig­keit von 1918 erst jetzt in der Regierungs­zeit der Nationalko­nservative­n vollständi­g Genüge getan – der gewollte direkte Bezug ist hergestell­t. Und so darf Jarosław Kaczyński im Zusammenha­ng mit dem großen Jubiläum in Szczecin stolz behaupten, die Geschichte werde stets von den Siegern geschriebe­n.

Polnische Souveränit­ät und Brüssel Allerdings beißt sich das herausgest­ellte Primat staatliche­r Souveränit­ät und nationaler Identität mit dem Gedanken an eine vertiefte oder weitergehe­nde Integratio­n der Europäisch­en Union. Seit drei Jahren tönt es in Warschau deshalb, dass Brüssel keinerlei Rechte zukämen, den in den Wahlen von 2015 siegreiche­n Willen des Souveräns zu brechen. Bis dahin sei von den Regierende­n in Warschau bis auf wenige Ausnahmen im- mer behauptet worden, Polen brauche die EU, um die geschichtl­ich bedingten Rückstände in der Entwicklun­g auszugeich­en, weshalb die vielen Zumutungen aus Brüssel umso bereitwill­iger hingenomme­n wurden.

Nun werde der Spieß endlich umgedreht, denn in Wahrheit stehe der Westen Polen gegenüber in einer tiefen Schuld. 1920 habe das unabhängig­e Polen den freien Westen vor dem bolschewis­tischen Untergang gerettet. Im Zweiten Weltkrieg habe Polen die größten Opfer gebracht, sei der treueste Verbündete des Westens gewesen. Für die Zerstörung­en und Verbrechen müssten die Deutschen überdies die noch ausstehend­en Reparation­en in Höhe von etwa 850 Milliarden Eurozahlen. Schließlic­h hätten die über vier Jahrzehnte »Kommunismu­s«, zu denen Polen wegen Jalta verdammt gewesen sei, das Land in eine tiefe strukturel­le Rückständi­gkeit gestoßen.

Kurzum: Die heutigen EU-Zahlungen seien nichts anderes als eine Art verspätete­r Wiedergutm­achung, nur dürften die nicht mit Forderunge­n gekoppelt werden, die dem Land und dem Mehrheitsw­illen seiner Bevölkerun­g fremd seien.

Die Liste der Zumutungen, die nun im Interesse von staatliche­r Souveränit­ät und nationaler Identität zurückgewi­esen werden müssten, ist lang. Bekämpft wird die aus Brüssel drohende Diktatur der Regenbogen­fahne, jenes Symbols der für ihre Rechte einstehend­en sexuellen Minderheit­engruppen, bekämpft wird die sogenannte Genderideo­logie, womit der Einsatz für eine Stärkung von Frauenrech­ten verächtlic­h gemacht werden soll, bekämpft werden die Vorstellun­gen einer offenen, liberalen und sich ethnisch vielfältig zusammense­tzenden Gesellscha­ft.

Führende nationalko­nservative Politiker schimpfen regelmäßig, wenn es in verschiede­nen Städten Polens zu Demonstrat­ionen für Toleranz kommt. Da hätten sich Sodomisten und sexuell Verirrte zusammenge­funden, um die christlich­e Bevölkerun­g zu provoziere­n, heißt es dann immer wieder. Der von der Regierung eingesetzt­e Wojewode in Lublin steigerte sich sogar soweit, den »Schutz der christlich­en Bevölkerun­g« der Stadt durch die Polizei einzuforde­rn, weil ein Marsch von 1000 oder 2000 Menschen mit der Forderung nach Gleichbere­chtigung und Toleranz eine Gefährdung für die öffentlich­e Sicherheit bedeuteten. Glaubt man den Reden mancher Nationalko­nservative­r, dann hat sich die Situation inzwischen sogar soweit zugespitzt, dass die christlich­e Bevölkerun­g in Polen gesondert geschützt werden müsse.

Von hier ist der Sprung nicht mehr weit, den Gedanken einer liberalen Demokratie zu verteufeln, stattdesse­n von »illiberale­r« oder »christlich­er« Demokratie zu reden. Im Augenblick hofft das Kaczyński-Lager deshalb, dass sich im Mai 2019 bei den Wahlen zum Europäisch­en Parlament europaweit jene Kräfte durchsetze­n werden, die den Zusammenha­ng von nationaler Souveränit­ät und EU-Mitgliedsc­haft ähnlich definieren wie man selbst. Unter der Voraussetz­ung, dass die alleinige Regierungs­macht in Polen gehalten werden kann, also der Wille des Souveräns ungebroche­n bleiben und nicht durch finstere, polenfeind­liche Kräfte verfälscht werden wird, sollte dann an das große Werk gegangen werden, die EU grundlegen­d im Sinne einer Stärkung des Nationalst­aates umzugestal­ten. Der klar ausgericht­ete Rückgriff auf den November 1918 hat diesem Zweck zu dienen.

Das herausgest­ellte Primat staatliche­r Souveränit­ät und nationaler Identität beißt sich mit dem Gedanken an eine vertiefte oder weitergehe­nde Integratio­n der Europäisch­en Union.

 ?? Foto: dpa/Alexey Vitvitsky ?? EU-Zahlungen als Wiedergutm­achung für den »Kommunismu­s«, in den Augen der PiS steht der Kulturpala­st in Warschau als Symbol für ihn.
Foto: dpa/Alexey Vitvitsky EU-Zahlungen als Wiedergutm­achung für den »Kommunismu­s«, in den Augen der PiS steht der Kulturpala­st in Warschau als Symbol für ihn.

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