Verhaftet wegen Lenins »Testament«
Warlam Schalamow »Über die Kolyma«: Erinnerungen an vierzehn Jahre sowjetische Lagerhaft
ber das weitverzweigte Netz der Arbeitslager in der Sowjetunion haben vor allem diejenigen Schriftsteller berichtet, die selber Jahrzehnte im Gulag verbrachten. Weltbekannt wurden Alexander Solschenizyn und Warlam Schalamow. Ihre Werke erschienen in der Regel in westlichen Verlagen früher als in der UdSSR.
Solschenizyns »Der Archipel Gulag», eine dokumentarisch-künstlerische Darstellung der Repressionen von 1918 bis 1956, die sich auf die Aussagen von 257 Opfern stützt, kam zuerst 1973 in Paris heraus. Schalamows Lagerprosa, in der seine vierzehn Jahre währenden Leiden im Kolymagebiet ihren Niederschlag fanden, entstand Mitte der fünfziger bis Anfang der siebziger Jahre. Es gelang dem Autor, einige Texte in die BRD zu schmuggeln, wo 1967 eine illegale Übersetzung unter dem Tarntitel »Artikel 58. Die Aufzeichnun- gen des Häftlings Schalanow« (sic!) erschien.
Schon als Jurastudent sympathisierte Warlam Schalamow (1907– 1982) mit der linken Opposition gegen Stalin der zwanziger Jahre. Wegen der Verbreitung von Lenins »Testament«, in dem dieser vor Stalin warnt, wurde er 1929 zu drei Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Nach einer neuen Anklage wegen »konterrevolutionärer trotzkistischer Tätigkeit« kam er 1937 in die Kolymaregion, wo er bei minus 55 Grad Gold und Kohle förderte, als Holzfäller, Arzthelfer und Feldscher arbeitete, während seine Strafzeit aufgrund fadenscheiniger Vorwürfe immer wieder verlängert wurde.
1951 aus dem Lager entlassen, konnte er erst 1956 nach Moskau zurückkehren. Mit 51 Jahren invalidisiert, starb Schalamow 1982 in einer Nervenheilanstalt. Mit Ausnahme der »Erzählungen aus Kolyma« sind die Prosawerke des Autors aus Krankheitsgründen unvollendet geblieben. Auch die jetzt vorliegenden Erinnerungen »Über die Kolyma« wurden nach seinem Tod von Irina Sirotinskaja, der Herausgeberin seiner russischen Werkedition, zusammenge- stellt. Es handelt sich um meist undatierte Essays, Erzählungen, Skizzen und literarische Miniaturen, die weitgehend dem chronologischen Ablauf des Lagerlebens folgen.
Als nüchterne Bilanz über vierzehn Jahre Straflager ist »Über die Kolyma« ein sehr authentischer Text. Schalamow befragt sein Gedächtnis, rekonstruiert das tatsächlich Gesche- hene, vermeidet jede Form der Psychologisierung und nachträglichen Sinngebung. Er erweist sich als ein entschiedener Gegner des traditionellen romanhaften Erzählens. Sein erklärtes Vorbild sind Dostojewskis gnadenlos genaue »Aufzeichnungen aus dem Totenhaus«.
Es ist ein selbstbewusstes Ich, das dem Leser entgegentritt und ihm die Gewissheit vermittelt, dass selbst die schlimmsten Schikanen des Lagerlebens die moralische Widerstandskraft des Menschen nicht brechen können. Gleichzeitig weiß dieses Ich um die Unvollkommenheit des Gedächtnisses und die Gefahr des Vergessens. Immer wieder drängt sich ihm die Frage auf, wie man man über all das Schreckliche schreiben soll und ob man den Prozess der »Vernichtung des Menschen mithilfe des Staates« überzeugend darstellen kann.
Die erste Werkausgabe Schalamows außerhalb Russlands, übersetzt von Gabriele Leupold, herausgegeben von der Slawistin Franziska Thun-Hohenstein, veröffentlicht der Berliner Verlag Matthes & Seitz. Bisher liegen vier Bände der »Erzählungen aus Kolyma« vor: »Durch den Schnee« (2007), »Linkes Ufer« (2008), »Künstler der Schaufel« (2010) und »Die Auferweckung der Lärche« (2011). 2009 erschien »Über Prosa«, ein schmales Bändchen mit Briefen an Pasternak und Solschenizyn. Erinnerungen an die Kindheit und das literarische Leben im Moskau der 1920er/30er Jahre enthält der Band »Das vierte Wologda« (2013). »Wischera« (2016), als »Antiroman« deklariert, schildert die erste Verhaftung des Autors 1929 und den Aufenthalt in einem Zwangsarbeitslager im Nordural.
Sein erklärtes Vorbild sind Dostojewskis »Aufzeichnungen aus dem Totenhaus«.
Warlam Schalamow: Über die Kolyma. Erinnerungen. Aus dem Russischen von Gabriele Leupold. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Franziska Thun-Hohenstein. Matthes & Seitz. (Werke in Einzelbänden, Band 7). 286 S., geb., 24 €.