Es plätscherte so vor sich hin
»Von der Revolte zur Revolution. Wie viel 1968 steckt in 1989?« – das wollte die Bundesstiftung Aufarbeitung wissen
Was sagen Schuhe über ihre Träger aus? Viel, gewiss nicht alles. Pure Langeweile trieb die Berichterstatterin zum Studium der Fußbekleidung der auf dem Podium sitzenden »Diskutanten« – die selbst gelangweilt, müde, schlapp wirkten. Die »Debatte« plätscherte so vor sich hin. Weil zum Ende des 68erGedenkmarathons eigentlich schon alles gesagt ist? Lebhafter wurde es erst, als das Publikum Fragen stellte und Einspruch artikulierte.
Die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur hatte zum Abschluss ihrer Veranstaltungsreihe »Das doppelte 1968« in ihr Berliner Domizil geladen, um zu eruieren, wie viel ’68 in ’ 89 steckt (was nicht beantwortet wurde). Ilko-Sascha Kowalczuk (Jg. 1967), nach der »Wende« als Student an der Humboldt-Universität Mitglied des Unabhängigen Historikerverbandes, trug grobe Schnürstiefel. Derb-klotzig war auch sein Impulsvortrag. 1968 sei man im Westen mit Marx, Mao, Lenin und roten Fahren sowie für den Sozialismus auf die Straße gegangen, während man im Osten gegen Marx, Mao, Lenin demonstrierte, rote Fahnen verbrannte und den Sozialismus verdammte. ’89 in der DDR war eine »nachholende Revolution«, da erst sei erstritten worden, was im Westen 1968 erreicht worden sei. Zutreffend wohl seine Beobachtung, dass viele westdeutsche Akteure der Revolte sich zu Apologeten wandelten, im Interesse eigener Besitzstandswahrung. (Dies trifft indes auch auf so manche 89er-Aktivisten zu.) Widerspruch erntete Kowalczuk hernach mit seinen Bemerkungen, von beiden historischen Ereignissen gehe keine Botschaft aus, sie würden Jugendliche nicht mehr interessieren, ebenso nicht jene Deutsche, die heute lautstark protestieren. ’68 und ’89 seien für eine europäische Erinnerungskultur »untauglich, nicht wirkmächtig«.
Ex-Bürgerrechtler und Pfarrer a. D. Rainer Eppelmann (Jg. 1943) vom Vorstand der Bundesstiftung und An- hänger bequemer Gesundheitsschuhe, meinte: »Ilko ist ein kluger Mann und hat, was Geschichte angeht, vielleicht mehr gelesen als ich.« (Was für ein Eingeständnis des Mannes, der einer nach ihm benannten BundestagsEnquetekommission zur Geschichte vorstand, die 29 000 Druckseiten fabrizierte, welche jetzt übrigens online sind.) Eppelmann widersprach ob eigener Erfahrungen mit Gymnasiasten, dass die Jugend desinteressiert sei. Er stimmte ihm aber zu, nach den Motiven zu fragen, die heute Leute wieder auf die Straße treiben. »Wie 1989. Sie fühlen sich nicht ernst genommen: ›Die da oben tun, was sie wollen, mit uns redet keiner.‹« Es müsse öffentlich gestritten werden.
Es oblag Ellen Ueberschär, 1967 in Berlin-Pankow geboren, Theologin und Vorstandsmitglied der HeinrichBöll-Stiftung, sowie Frank Bösch (Jg. 1969), Professor am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam, beide Träger eleganten, spitz auslaufenden wildledernen Schuhwerks, zu korrigieren, konkretisieren, diffe- renzieren und zu ziselieren. Ueberschär wies die »kulturpessimistische Sicht« von Kowalczuk zurück, berichtete von einem Jugendkongress ihrer Stiftung in Prag zu 1968 mit sehr interessierten Teilnehmern, die natürlich gemäß familiären und nationalen Erfahrungen unterschiedliche Akzente setzten. Sie konzedierte, die 68er im Westen wollten Revolution, die 89er im Osten Reformen, was sich jeweils nicht erfüllte und Erben unzufrieden hinterließ. Die diesjährige Erinnerung in Tschechien an ’68, so Ueberschär, sei verbunden gewesen mit Protesten gegen die gegenwärtige »populistische Regierung in Prag, die nichts auf die Reihe bekommt«. Und obwohl im postsowjetischen Raum, historisch bedingt, Souveränität wichtiger erscheine als eine gemeinsame europäische Erinnerungskultur, sei das »Framing«, die Einbettung und Verankerung in gemeinsamer Geschichte, wichtig: »Und da taugen als Frames ’68 und ’89.«
Der wichtigste Satz des Abends, anspielend auf die Proteste seinerzeit sowie aktuell in Chemnitz und anderswo, kam ebenfalls aus Ueberschärs Munde: »Ich sehe einen großen Unterschied zwischen jenen, die auf die Straße gehen und Rechte für sich und alle anderen einfordern, und jenen, die anderen Rechte beschränken wollen.« Ueberschär gab sodann gar zu bedenken, ob die repräsentative Demokratie nicht einer Ergänzung bedürfe, damit Menschen sich nicht ausgegrenzt, abgehängt fühlen.
Bösch bestätigte, dass ’68 noch sehr präsent sei, wie allein der Widerstreit der Parteien in diesem Jahr beweise. Beide historischen Zäsuren seien aber auch ambivalent: ’68 brachte »viele Verirrungen« (K-Gruppen, RAF) hervor, ’89 »viele Verlierer«. Dennoch wertet Bösch Revolte und Revolution »als Bindeglied zu den neuen sozialen Bewegungen«.
Angemerkt sei der Vollständigkeit halber: Der Moderator, ein Redakteur von Inforadio, das am 30. Dezember die Veranstaltung in Auszügen sendet, favorisiert den unscheinbaren, konventionellen Herrenschuh.