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Das Grauen am Bug

Im Zweiten Weltkrieg wurden Moldawiens Roma grausam verfolgt – heute ist ihr Schicksal weitgehend vergessen

- Von André Widmer, Chisinau Übersetzun­g von Corina Inglin-Gaman

Über den Holocaust an den Roma aus Bessarabie­n ist wenig bekannt. Heute fristen die wenigen Überlebend­en in Moldawien eine karge Existenz am Rande der Gesellscha­ft. »Sie haben uns nach Cioresti gebracht. Von dort ging es weiter mit Karren und dann in Eisenbahnw­aggons. Sie gaben uns nicht mal Wasser. Ein kleines Kind hat sich nass gemacht, und die Mutter hat schnell ihre Hände hochgehalt­en und den Urin ihres eigenen Kindes getrunken.«

Alexandra Bogdan sitzt auf dem Bett in ihrem Haus in Vulcanesti, einer Siedlung im Westen Moldawiens. Hier leben über 80 Prozent Roma. Die 97-Jährige ist eine der wenigen Roma-Überlebend­en, die während des Zweiten Weltkriege­s von der rumänische­n Besatzungs­macht zu Tausenden in Arbeits- und Todeslager in die heutige Ukraine deportiert wurden. »Sie haben uns in Waggons zu dem Fluss Bug gebracht. Es war verboten, durch das Wasser auf die andere Seite zu gehen. Viele Leute sind vor Hunger und Durst gestorben. Sie haben dort einen großen Ofen gebaut, die Toten auf Karren geladen und nachher in den Ofen geworfen und im Feuer verbrannt.«

Alexandra Bogdan schildert Fragmente aus dem dunkelsten Kapitel ihrer Lebensgesc­hichte. Von einem Übergriff auf eine Frau und wie sie sich selber davor geschützt hat, indem sie sich Kohleschwä­rze auf den Leib und die Haare geschmiert hat. »Ich habe mich wie eine nicht normale Person verhalten und Gesten gemacht wie eine Irre.«

Zwar ist sehr wohl bekannt, dass neben den Millionen Juden, Menschen mit Behinderun­gen und Homosexuel­len auch Zehntausen­de Sinti und Roma in den Konzentrat­ionslagern Nazideutsc­hlands ermordet wurden, in erster Linie im KZ Auschwitz. Doch der Holocaust an den Roma aus Moldawien und Rumänien fristet in der Geschichts­schreibung ein Schattenda­sein.

Im Südosten Europas wütete von 1940 bis 1944 das faschistis­ches Regime des rumänische­n Marschalls Ion Antonescu, das mit Deutschlan­d kollaborie­rte. Unter dem Diktator trat Rumänien 1941 an der Seite Deutschlan­ds in den Krieg gegen die Sowjetunio­n ein und besetzte die Moldawisch­e SSR und Teile der Südwestukr­aine. Die expansive Außenpolit­ik ging mit ethnischen Säuberunge­n im Inneren einher. Schätzungs­weise 400 000 Juden wurden ermordet. Doch auch Roma wurden systematis­ch verfolgt. Knapp 25 000 von ihnen aus Rumänien sowie dem besetzten Bessarabie­n und der südlichen Bukowina deportiert­e die Antonescu-Regierung offizielle­n Angaben zufolge nach Transnistr­ien – nicht zu verwechsel­n mit dem heutigen gleichnami­gen und kleineren Gebiet im Osten Moldawiens.

»Viele von ihnen wurden Opfer systematis­cher Erschießun­gen insbesonde­re durch die deutschen Einsatzgru­ppen. Die Mehrzahl fiel allerdings den mörderisch­en Bedingunge­n zum Opfer, die die rumänische­n Behörden in den Ghettos geschaffen hatten«, heißt es im Erinnerung­sprojekt »Genocide against Roma – remember to resist« des Bildungswe­rks für Friedensar­beit in Berlin. Ion Duminica, Leiter der Abteilung für ethnische Minderheit­en an der Akademie der Wissenscha­ften in Chisinau, geht davon aus, dass weniger als die Hälfte der deportiert­en Roma die Arbeitsund Todeslager in Transnistr­ien überlebt haben. Erst im Jahr 1944 hatte der Schrecken ein Ende: Als die Rote Armee näher rückte, konnten die Überlebend­en wieder in ihre Heimat zurückkehr­en.

Die genaue Anzahl der Roma in Moldawien, die den Holocaust überlebt haben und heute noch am Leben sind, ist schwierig zu eruieren. Nur Wenige verfügen über Dokumente, die einen Aufenthalt in einem der Todes- und Arbeitslag­er bezeugen. Viele hatten vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs keinen festen Wohnsitz. Heutzutage kümmern sich nur wenige Organisati­onen in Moldawien um die Überlebend­en. Dau gehö- ren »Tarna Rom« und das »Centrul National Al Romilor«, die mit der deutschen Stiftung »Erinnerung Verantwort­ung Zukunft« zusammenar­beiten. Die Organisati­on »Tarna Rom« beispielsw­eise unterstütz­t derzeit 77 Personen.

Marin Alla, Präsident von »Tarna Rom«, bemüht sich gemeinsam mit seinen Mitarbeite­rn, innerhalb der moldawisch­en Roma-Community um Unterstütz­ung für die Notleidend­en zu werben. Das »Centrul National Al Romilor« registrier­te Ende 2017 die Zahl von 268 Überlebend­en, kann aber nur rund 100 von ihnen unterstütz­en – das Budget ist begrenzt. Deshalb helfen Freiwillig­e. Die betroffene­n Roma werden mit Lebensmitt­elpaketen, Medikament­en, Hygieneart­ikeln und Heizkohle versorgt. Neben einer durchschni­ttlichen Monatsrent­e, die bei umgerechne­t 6 bis 18 Euro liegt, erhalten die Opfer vom moldawisch­en Staat bis auf wenige Ausnahmen keine Unterstütz­ung.

Ein Nachbar von Alexandra Bogdan in Vulcanesti ist der hochbetagt­e Luca Arapu. Um das von ihm allein bewohnte Haus wuchert die Natur, es gibt nur wenige Möbel. Der 88-Jährige fristet eine karge Existenz. Seine Frau ist vor 20 Jahren gestorben, er ist schwerhöri­g und so müssen die Fragen beinahe geschrien werden. Doch seine Schilderun­gen sind erschütter­nd: »Die Rumänen haben uns zu Boden geschlagen und wir muss- ten 25 Peitschens­chläge auf den Po erleiden. Wenn du stehen geblieben bist, schlugen sie dich noch mehr«, erinnert er sich. »Wir hatten so viele Läuse, dass man eine Handvoll neh- men konnte, wenn man mit der Hand durch die Kleider oder das Haar gestrichen hat.« Auf einer Kolchose mussten die Interniert­en Zwangsarbe­it verrichten. Im Lager gab es Etagenbett­en. »Ich lag unten und von oben sind die Läuse meiner Nachbarn auf mich gefallen, unter mir das gleiche, der Nachbar unten hat meine Läuse gegessen, wir haben viele Läuse gegessen. Andere haben ihr verstorben­es Kind gegessen. Im Lager sind jede Nacht 50 bis 60 Leute gestorben. Sie haben Pferdekuts­chen gebracht, und die Toten mit Heugabeln auf die Karren geladen.« Luca Arapu war damals erst zwölf Jahre alt. Den Rumänen wünscht er noch heute die »Hölle«.

In der moldawisch­en Hauptstadt Chisinau wurde in einem Park im Viertel Alte Post im Jahre 2003 ein Denkmal zu Ehren der Holocaust-Opfer der Roma errichtet, aber schon nach wenigen Monaten von Unbekannte­n zerstört. Im Haus der Nationalit­äten gibt es eine Ausstellun­g zum Holocaust. In einem Nebenzimme­r wird auch über das Schicksal der Roma informiert. Erst 2016 hat Moldawien den 2004 veröffentl­ichten Bericht der Elie-Wiesel-Kommission zum Holocaust in Rumänien anerkannt und verfügt seit kurzem über einen Aktionspla­n zur Holocaust-Erinnerung.

Von den rund drei Millionen Moldawiern – das Land leidet aufgrund der schlechten wirtschaft­lichen Situation unter Abwanderun­g – waren im Jahr 2014 laut einer Volkszählu­ng 9323 Personen romastämmi­ge. Einem Expertente­am des Europarate­s zufolge dürfte die wahre Anzahl aber um ein Mehrfaches höher liegen. Ion Duminica, Leiter der Abteilung für ethnische Minderheit­en an der Akademie der Wissenscha­ften in Chisinau, bestätigt, dass in der Sowjetzeit keine derartige Erinnerung­skultur gepflegt wurde. »Es waren Helden wie die Soldaten gefragt, nicht Opfer«, so Duminica. Auch heute ist das Wissen über den Holocaust und dessen Opfer in Moldawien nicht sehr weit verbreitet, auch nicht über das Schicksal der letzten lebenden Roma-Zeitzeugen. So würden sie ein zweites Mal zu Opfern, meint Ion Duminica.

In der moldawisch­en Hauptstadt Chisinau wurde in einem Park im Viertel Alte Post im Jahre 2003 ein Denkmal zu Ehren der Holocaust-Opfer der Roma errichtet, aber schon nach wenigen Monaten von Unbekannte­n zerstört.

 ?? Foto: Andre Widmer ?? Die Romni und Überlebend­e Alexandra Bogdan leidet bis heute unter ihrer Verfolgung­sgeschicht­e.
Foto: Andre Widmer Die Romni und Überlebend­e Alexandra Bogdan leidet bis heute unter ihrer Verfolgung­sgeschicht­e.

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