Das Grauen am Bug
Im Zweiten Weltkrieg wurden Moldawiens Roma grausam verfolgt – heute ist ihr Schicksal weitgehend vergessen
Über den Holocaust an den Roma aus Bessarabien ist wenig bekannt. Heute fristen die wenigen Überlebenden in Moldawien eine karge Existenz am Rande der Gesellschaft. »Sie haben uns nach Cioresti gebracht. Von dort ging es weiter mit Karren und dann in Eisenbahnwaggons. Sie gaben uns nicht mal Wasser. Ein kleines Kind hat sich nass gemacht, und die Mutter hat schnell ihre Hände hochgehalten und den Urin ihres eigenen Kindes getrunken.«
Alexandra Bogdan sitzt auf dem Bett in ihrem Haus in Vulcanesti, einer Siedlung im Westen Moldawiens. Hier leben über 80 Prozent Roma. Die 97-Jährige ist eine der wenigen Roma-Überlebenden, die während des Zweiten Weltkrieges von der rumänischen Besatzungsmacht zu Tausenden in Arbeits- und Todeslager in die heutige Ukraine deportiert wurden. »Sie haben uns in Waggons zu dem Fluss Bug gebracht. Es war verboten, durch das Wasser auf die andere Seite zu gehen. Viele Leute sind vor Hunger und Durst gestorben. Sie haben dort einen großen Ofen gebaut, die Toten auf Karren geladen und nachher in den Ofen geworfen und im Feuer verbrannt.«
Alexandra Bogdan schildert Fragmente aus dem dunkelsten Kapitel ihrer Lebensgeschichte. Von einem Übergriff auf eine Frau und wie sie sich selber davor geschützt hat, indem sie sich Kohleschwärze auf den Leib und die Haare geschmiert hat. »Ich habe mich wie eine nicht normale Person verhalten und Gesten gemacht wie eine Irre.«
Zwar ist sehr wohl bekannt, dass neben den Millionen Juden, Menschen mit Behinderungen und Homosexuellen auch Zehntausende Sinti und Roma in den Konzentrationslagern Nazideutschlands ermordet wurden, in erster Linie im KZ Auschwitz. Doch der Holocaust an den Roma aus Moldawien und Rumänien fristet in der Geschichtsschreibung ein Schattendasein.
Im Südosten Europas wütete von 1940 bis 1944 das faschistisches Regime des rumänischen Marschalls Ion Antonescu, das mit Deutschland kollaborierte. Unter dem Diktator trat Rumänien 1941 an der Seite Deutschlands in den Krieg gegen die Sowjetunion ein und besetzte die Moldawische SSR und Teile der Südwestukraine. Die expansive Außenpolitik ging mit ethnischen Säuberungen im Inneren einher. Schätzungsweise 400 000 Juden wurden ermordet. Doch auch Roma wurden systematisch verfolgt. Knapp 25 000 von ihnen aus Rumänien sowie dem besetzten Bessarabien und der südlichen Bukowina deportierte die Antonescu-Regierung offiziellen Angaben zufolge nach Transnistrien – nicht zu verwechseln mit dem heutigen gleichnamigen und kleineren Gebiet im Osten Moldawiens.
»Viele von ihnen wurden Opfer systematischer Erschießungen insbesondere durch die deutschen Einsatzgruppen. Die Mehrzahl fiel allerdings den mörderischen Bedingungen zum Opfer, die die rumänischen Behörden in den Ghettos geschaffen hatten«, heißt es im Erinnerungsprojekt »Genocide against Roma – remember to resist« des Bildungswerks für Friedensarbeit in Berlin. Ion Duminica, Leiter der Abteilung für ethnische Minderheiten an der Akademie der Wissenschaften in Chisinau, geht davon aus, dass weniger als die Hälfte der deportierten Roma die Arbeitsund Todeslager in Transnistrien überlebt haben. Erst im Jahr 1944 hatte der Schrecken ein Ende: Als die Rote Armee näher rückte, konnten die Überlebenden wieder in ihre Heimat zurückkehren.
Die genaue Anzahl der Roma in Moldawien, die den Holocaust überlebt haben und heute noch am Leben sind, ist schwierig zu eruieren. Nur Wenige verfügen über Dokumente, die einen Aufenthalt in einem der Todes- und Arbeitslager bezeugen. Viele hatten vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs keinen festen Wohnsitz. Heutzutage kümmern sich nur wenige Organisationen in Moldawien um die Überlebenden. Dau gehö- ren »Tarna Rom« und das »Centrul National Al Romilor«, die mit der deutschen Stiftung »Erinnerung Verantwortung Zukunft« zusammenarbeiten. Die Organisation »Tarna Rom« beispielsweise unterstützt derzeit 77 Personen.
Marin Alla, Präsident von »Tarna Rom«, bemüht sich gemeinsam mit seinen Mitarbeitern, innerhalb der moldawischen Roma-Community um Unterstützung für die Notleidenden zu werben. Das »Centrul National Al Romilor« registrierte Ende 2017 die Zahl von 268 Überlebenden, kann aber nur rund 100 von ihnen unterstützen – das Budget ist begrenzt. Deshalb helfen Freiwillige. Die betroffenen Roma werden mit Lebensmittelpaketen, Medikamenten, Hygieneartikeln und Heizkohle versorgt. Neben einer durchschnittlichen Monatsrente, die bei umgerechnet 6 bis 18 Euro liegt, erhalten die Opfer vom moldawischen Staat bis auf wenige Ausnahmen keine Unterstützung.
Ein Nachbar von Alexandra Bogdan in Vulcanesti ist der hochbetagte Luca Arapu. Um das von ihm allein bewohnte Haus wuchert die Natur, es gibt nur wenige Möbel. Der 88-Jährige fristet eine karge Existenz. Seine Frau ist vor 20 Jahren gestorben, er ist schwerhörig und so müssen die Fragen beinahe geschrien werden. Doch seine Schilderungen sind erschütternd: »Die Rumänen haben uns zu Boden geschlagen und wir muss- ten 25 Peitschenschläge auf den Po erleiden. Wenn du stehen geblieben bist, schlugen sie dich noch mehr«, erinnert er sich. »Wir hatten so viele Läuse, dass man eine Handvoll neh- men konnte, wenn man mit der Hand durch die Kleider oder das Haar gestrichen hat.« Auf einer Kolchose mussten die Internierten Zwangsarbeit verrichten. Im Lager gab es Etagenbetten. »Ich lag unten und von oben sind die Läuse meiner Nachbarn auf mich gefallen, unter mir das gleiche, der Nachbar unten hat meine Läuse gegessen, wir haben viele Läuse gegessen. Andere haben ihr verstorbenes Kind gegessen. Im Lager sind jede Nacht 50 bis 60 Leute gestorben. Sie haben Pferdekutschen gebracht, und die Toten mit Heugabeln auf die Karren geladen.« Luca Arapu war damals erst zwölf Jahre alt. Den Rumänen wünscht er noch heute die »Hölle«.
In der moldawischen Hauptstadt Chisinau wurde in einem Park im Viertel Alte Post im Jahre 2003 ein Denkmal zu Ehren der Holocaust-Opfer der Roma errichtet, aber schon nach wenigen Monaten von Unbekannten zerstört. Im Haus der Nationalitäten gibt es eine Ausstellung zum Holocaust. In einem Nebenzimmer wird auch über das Schicksal der Roma informiert. Erst 2016 hat Moldawien den 2004 veröffentlichten Bericht der Elie-Wiesel-Kommission zum Holocaust in Rumänien anerkannt und verfügt seit kurzem über einen Aktionsplan zur Holocaust-Erinnerung.
Von den rund drei Millionen Moldawiern – das Land leidet aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Situation unter Abwanderung – waren im Jahr 2014 laut einer Volkszählung 9323 Personen romastämmige. Einem Expertenteam des Europarates zufolge dürfte die wahre Anzahl aber um ein Mehrfaches höher liegen. Ion Duminica, Leiter der Abteilung für ethnische Minderheiten an der Akademie der Wissenschaften in Chisinau, bestätigt, dass in der Sowjetzeit keine derartige Erinnerungskultur gepflegt wurde. »Es waren Helden wie die Soldaten gefragt, nicht Opfer«, so Duminica. Auch heute ist das Wissen über den Holocaust und dessen Opfer in Moldawien nicht sehr weit verbreitet, auch nicht über das Schicksal der letzten lebenden Roma-Zeitzeugen. So würden sie ein zweites Mal zu Opfern, meint Ion Duminica.
In der moldawischen Hauptstadt Chisinau wurde in einem Park im Viertel Alte Post im Jahre 2003 ein Denkmal zu Ehren der Holocaust-Opfer der Roma errichtet, aber schon nach wenigen Monaten von Unbekannten zerstört.