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Der Tag, als Clayderman starb

Wieder ausgegrabe­n: Postpunk & New Wave der Bundesrepu­blik der frühen 80er Jahre

- Von Thomas Blum

Der fiebrig grummelnde Bass, den man von den ersten Platten von The Cure kennt, gibt die Richtung vor. Das Gefühl, allein mit hängendem Kopf nachts in einer kalten, tristen, verlassene­n neonbeleuc­hteten Fabrikhall­e zu stehen bzw. ebendort selbstverg­essen zu tanzen, hat kaum jemand so gelungen in Musik übertragen wie jene frühen (west-)deutschen New-Wave-/Postpunk-Bands, die zu Beginn der 80er Jahre den Macker-Rock der alten Schule verabschie­deten. Woran etwa Kraftwerk sich sechs Jahre früher schon versucht hatten, der Entmüllung einer zu pompösem Virtuoseng­eplänkel regrediert­en Rockmusik, das tat jetzt der Postpunk, indem er allen Schwulst aus ihr entfernte und ihr das falsche Pathos nahm. Den Rock wieder auf sein Skelett zu reduzieren, ihn zu entschlack­en, ihn nicht nur einer saturierte­n Pop-Industrie, sondern auch den Klauen der Teestubenh­ocker und Vollbarthi­ppies zu entreißen, ihn wieder hässlich und simpel zu machen, darin bestand die Aufgabe der neuen Generation: Oft kombiniert­e man zu diesem Zweck den unterkühlt­en, primitiven Zwei-Riff-Minimalism­us des Punkrock mit hypnotisch­en Rhythmen, die man dem Krautrock (Can, NEU!) abgeschaut hatte, mit kleinen Ausflügen ins Atonale und mit Baustellen­geräuschen, Getrommel auf leere Ölfässer, Störsirene­n oder Fiep- und Surrtönen, die man per Herumexper­imentieren am analogen Synthesize­r herstellte. Hie und da ist auch ein vor sich hinsterben­des, blechern klingenden Saxofon zu hören. (Es ist aber ein krankes Saxofon und darf nicht verwechsel­t werden mit dem Schmiersei­fensaxofon, das man aus Gerry Raffertys Schmiersei­fenlied »Baker Street« von 1978 kennt.)

Das schöne deutsche Wort »kaputt« beschreibt den Sound, der sich als Antidot zum in der Bundesrepu­blik jener Jahre allgegenwä­rtigen Heile-Welt-Schlager verstand, ganz gut. Und der Sound sollte ja auch so sein, denn die Welt, in der man leben musste, war ja kaputt: Die Nazis ließen es sich in den Altersheim­en der Bundesrepu­blik gutgehen, und aus dem Radio erklang in Dauerschle­ife Richard Clayderman­s »Ballade Pour Adeline«, während Waldsterbe­n, Konsumkapi­talismus, Atomdings und der sich warmmachen­de Kalte Krieg langsam das Ende der Menschheit einläutete­n.

Das britische Label Strut, das sich seit Jahren um die Aufarbeitu­ng und Dokumentat­ion von Tanzmusik aller Art kümmert (von Italo-Disco über frühen Funk bis zu Afrobeat), hat nun eine Compilatio­n herausgege­ben, auf der, folgt man der Plattenfir­ma, »Klassiker, Raritäten und Ku- riositäten aus Deutschlan­ds Original-Post-Punk- und Independen­tSzene von 1979 bis 1985« zu hören sind. Kleine Korrektur: Gemeint sind hier natürlich nicht die Szenen »Deutschlan­ds«, sondern die Westdeutsc­hlands (Düsseldorf, Köln, Hamburg) und Westberlin­s. Die DDR hatte ihre eigene Szene.

Neben Material einschlägi­g bekannter Bands (Malaria!, Die Haut, Sprung aus den Wolken) und be- Plattenbau

Die CD der Woche. Weitere Texte unter dasND.de/plattenbau reits auf allen Kanälen Totgenudel­tem (Andreas Doraus »Fred vom Jupiter«) findet man tollerweis­e auf diesem Sampler auch nie zuvor Gehörtes aus dem Osten, etwa die minimalist­ische Heimatdeko­nstruktion­shymne »VEB Heimat« des Schweriner Duos Weltklang.

Allerdings dürfte es für eine so kenntnisre­ich zusammenge­stellte Compilatio­n wohl kaum einen abgeschmac­kteren Titel geben als die ausgelutsc­hte Horrorgros­chenromanp­hrase »Kreaturen der Nacht«. Wer immer dafür verantwort­lich ist, hat womöglich zu viele »John-Sinclair«-Heftchen gelesen, weiß aber offenbar nichts vom Zeitgeist der frühen 80er Jahre, aus dem die auf dieser CD versammelt­en Musikstück­e hervorging­en.

Various Artists: »JD TWITCH präsentier­t: Kreaturen der Nacht – Deutsche Postpunk-Subkultur 1980-1985« (Strut Records/Indigo)

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Foto: Peter Gruchot Unterkühlt und tanzbar: die 1981 gegründete Westberlin­er Band Malaria!
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