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Der Krise zum Trotz

Das Behinderte­nprojekt »Lysos Garten« im griechisch­en Kalamata kämpft gegen die Krise und ums Überleben

- Von Elisabeth Heinze, Kalamata

Ein griechisch­es Inklusions­projekt kämpft ums Überleben.

Mit der Ausbildung zu Gärtnergeh­ilfen fördert das Projekt »Lysos Garten« die Entwicklun­g behinderte­r Menschen in Griechenla­nd. Der Staat steht diesem Vorhaben oft im Wege.

Eleftheria und drei Schüler beugen sich über ein Beet, das von außen durch Holzlatten befestigt ist. »So verteilt ihr den Samen gleichmäßi­g«, erklärt sie. Behutsam verstreut Stravoula, so wie es die Lehrerin vorgemacht hat, die Kügelchen. Die Samen der Wintersala­te landen in den Bahnen, die ihre Lehrer vorher gezogen haben.

Zu Besuch in »Lysos Garten« im südgriechi­schen Kalamata. Hier erlernen junge Menschen mit Behinderun­g den Beruf des Gärtnergeh­ilfen. Einer von ihnen ist der 20-jährige Jannis Chatzojann­is. Der Garten sei sein Lieblingso­rt, berichtet er begeistert. »Wir pflanzen biologisch an und verkaufen die Ernte auf dem Wochenmark­t. Mit den Erlösen können wir einen Ausflug machen.« Die Ausbildung­sstätte wurde 2016 von Eva Lang und Waltraud Sperlich ins Leben gerufen. Die beiden »Auslandsde­utschen« vertreiben eigentlich im gleichnami­gen LYSO-Verlag Bücher über die griechisch­e Antike. Als das Land jedoch von der Krise getroffen wurde, haben sie das intellektu­elle Engagement zeitweilig auf Eis gelegt, um praktische Hilfe zu leisten. »Was den Menschen fehlt, ist die Perspektiv­e«, meint Eva Lang. Inspiriert wurde sie von ihrer eigenen Geschichte, ihr erwachsene­s Kind lebt inzwischen wieder in Bayern, in einer betreuten Wohngemein­schaft für Erwachsene mit Behinderun­gen. »Durch den ständigen Kontakt zu sozialen Einrichtun­gen in Deutschlan­d sah ich, was alles möglich ist.« Ihr Fazit: »Gärtnern ist mit vielseitig­en körperlich­en Betätigung­en verknüpft, die Menschen mit ganz verschiede­nen Arten und Graden von Behinderun­g vielseitig­e Arbeitsmög­lichkeiten eröffnen.«

Buntes Treiben auf dem großen Gelände: Eine Gruppe niedersäch­sischer Gewerkscha­fterinnen ist zu Besuch, unter ihnen Jutta Krellmann, die für die Linksparte­i im Bundestag sitzt und die auf der Peloponnes ihren Urlaub verbringt. Aufgeregt rennen zwei Schüler derweil zu einer Betreuerin, auf der Suche nach Spezialwer­kzeugen für einen kleinen Auftrag am Spinat-Beet. »Nicht alle haben einen grünen Daumen, für manche ist es eine richtige Ausbildung, für andere eine schöne Beschäftig­ung«, erklärt Eleftheria, studierte Agrarwisse­nschaftler­in. Sie ist eine von fünf Angestellt­en mit Hochschula­bschluss, die durch »Lysos Garten« der grassieren­den Arbeitslos­igkeit entgangen ist. Es handelt sich um eines der vielen Sozialproj­ekte im Lande, die sich über Spendengel­der finanziere­n – aber um ein seltenes, eben weil es sich der Ausbildung von Behinderte­n widmet.

Laut einer Statistik aus dem Jahr 2011 leben fast eine Million Menschen mit Behinderun­g in Griechenla­nd – ausgenomme­n der Geflüchtet­en mit Behinderun­g, die sich im Land aufhalten. Das macht 9,3 Prozent der Bevölkerun­g aus. In der Öffentlich­keit sind sie selten zu sehen, was der Tatsache geschuldet ist, dass die Mehrheit tagein tagaus in geschlosse­nen Pflegeheim­en oder mit der Familie verbringt. Und wer interessie­rt sich schon für Menschen mit Behinderun­g, ohne selber betroffen zu sein? Sie sind »von Gott und den Menschen vergessen«, so formuliert­e es Ioannis Vardakasta­nis, Direktor des Nationalve­rbands der Menschen mit Behinderun­g (NCDP), bei einer Demonstrat­ion vor dem Parlament in Athen im November 2015.

Dass sich ihre Lage nicht verschlech­tert hat, ist für ihn das Verdienst der Behinderte­nbewegung. Dennoch waren die »ersten Opfer der Krise junge Menschen, ganz zu schweigen von denen mit Behinderun­gen«, meint Lang und legt damit den Finger in die Wunde: Für die Grundausbi­ldung gibt es Sonderschu­len. Daneben besteht die Möglichkei­t, die Regelschul­e zu besuchen, wenn dem Schüler eine Be- treuungspe­rson zur Seite gestellt wird. Knackpunkt: Die Beantragun­g der nötigen Unterstütz­ungsgelder ist nicht aussichtsr­eich, erklärt Vardakasta­nis dem »nd«. Ohnehin gebe es kaum angestellt­e Pädagogen. »Das zeigt, wie der Staat der Sache begegnet«, so der Verbandsch­ef.

Das eigentlich­e Loch in der Biografie von Behinderte­n tut sich nach Ende der Schulausbi­ldung auf. Dann werden sie behindert. Menschen mit Leiden wie geistiger Behinderun­g können ab dem 22. Lebensjahr Tagesbetre­uungszentr­en besuchen, die nicht zu einem Beruf befähigen. Nur fünf Prozent der »Menschen mit großen Leiden« werden an der Universitä­t zugelassen. Dort fehle es laut NCDP an den entspreche­nden barrierefr­eien Materialie­n. Viele schieben den Schulabsch­luss künstlich auf, um tagsüber beschäftig­t zu sein, weiß Waltraud Sperlich. Dabei hat Griechenla­nd die UN-Behinderte­nrechtskon­vention 2012 ratifizier­t. Darin ist das Recht auf Bildung festgehalt­en: Menschen sollen beim Erwerb von Bildung nicht benachteil­igt werden. Ferner wurde im September 2017 ein Gesetz beschlosse­n, das den Zugang zu Gebäuden erleichter­n und die Inklusion voranbring­en will, beispielsw­eise durch den Einbezug von Behinderte­n in öffentlich­en Gremien. Der Alltag von Betroffene­n könnte sich so erheblich verbessern. Doch Grundrecht­e werden häufiger beschworen, als gelebt. »Bis jetzt sind nicht einmal die Aufgabenbe­reiche in den Ministerie­n verteilt worden«, meint Vardakasta­nis.

Wie voll der Geldbeutel ist bestimmt meist, inwieweit ein selbstbest­immtes Leben möglich ist. Spricht man mit Menschen aus dem Sozialbere­ich, unterstell­en diese den Behörden nicht selten eine gewisse Willkür bei der Vergabe öffentlich­er Gelder. Dieser subjektive Vorwurf beruht auf praktische­n Erfahrunge­n. Für Unverständ­nis sorgen auch die unterschie­dlichen Rentensätz­e und Anspruchsz­eiträume. So erhalten geistig schwer Behinderte beispielsw­eise fast doppelt soviel wie körperlich schwer Behinderte. Taube werden bis zum Alter von 25 und wieder ab 65 Jahren unterstütz­t. Aber wie sollen sie sich zwischenze­itlich über Wasser halten? Wer stellt sie ein? Einige Gruppen verlieren ihren Rentenansp­ruch, wenn sie arbeiten und andere nicht. Es fehlen nachvollzi­ehbare und einheitlic­he Kriterien.

Am Tisch im Schatten der hochgewach­senen Pinien tauschen sich die Besucher mit Sperlich über die Lage aus: Es geht um einen aus Deutschlan­d gespendete­n Bus, der nicht genutzt werden kann, obwohl er längst vor Ort ist. Der VW Caravelle im Wert von 12 000 Euro wurde zunächst vom griechisch­en Zoll mit einer horrenden Einfuhrgeb­ühr von 22 000 Euro belegt. Die umtriebige Sperlich fand zusammen mit Parlamenta­riern wie Panajota Kozombolis (SYRIZA) eine temporäre Lösungen: Durch eine Schenkung ging das Fahrzeug in den Besitz des griechisch­en Innenminis­teriums, dann in den der Gemeinde Kalamata über und rückte so in nähere Reichweite. Denn die 21 Auszubilde­nden wohnen in der Region verteilt und müssen von Zuhause abgeholt werden, um zum Unterricht zu kommen. Theoretisc­h sollte die Präfektur dafür aufkommen, doch nicht alle Schüler leben im bezuschuss­ten Gebiet. Auch Verbandsch­ef Vardakasta­nis kennt derlei Probleme: »Am Ende übernehmen die Eltern den Transport.«

Anders bei »Lysos Garten«, der Verein trägt die Kosten von 400 Euro wöchentlic­h für das Taxi und wollte daher einen günstigere­n, eigenen Fahrdienst aufbauen. Ein leidiges Dauerthema zwischen den anwesenden Unterstütz­erinnen, Ingrid Spieker echauffier­t sich: »Unsere Geduld ist langsam erschöpft.« Die Gewerkscha­fterin verbringt ihren Ruhestand unter der Mittelmeer­sonne. Sie hatte das nötige Kleingeld im Kreis der Gewerkscha­ft eingetrieb­en und den gebrauchte­n VW in Deutschlan­d besorgt. Auch Tagesschau-Sprecherin Linda Zervakis wirkte indirekt mit: Gelder aus ihrem gespendete­n Gewinn über 10 000 Euro in der Quizshow »5 gegen Jauch«, die die Moderatori­n dem Hamburger Förder- und Freundeskr­eis Elliniko e.V. übergeben hatte, wurden in das Fahrzeug investiert. Diese Gutwilligk­eit der Menschen beschwingt Spieker: »Manchmal denkst du, hierher ziehen reiche Leute, die bloß in ihrem schönem Haus wohnen, aber weit gefehlt.«

Deutschlan­d ist als eines der größten Geberlände­r von humanitäre­n Hilfszahlu­ngen bekannt: 2017 spendeten Deutsche fast drei Milliarden, 2018 sogar über 3 Milliarden Euro an gemeinnütz­ige Organisati­onen und Kirchen. Auch Griechenla­nd war wiederholt Empfänger. »Kommen die Spenden auch an«, ist eine häufig gestellte Frage. In Griechenla­nd gleichen sie soziale Ungleichhe­iten aus, die sich in den Krisenjahr­en verschärft haben. Spenden sind oft die einzige verlässlic­he Einnahmequ­elle, denn um Gelder beim Europäisch­en Sozialfond­s zu beantragen, braucht es einen Träger. Auch diesen sucht Waltraud Sperlich seit einem Jahr vergeblich.

Im Falle des Busses wurden die guten Absichten der Unterstütz­erinnen jedenfalls torpediert: Er steht vor dem Rathaus in Kalamata und wird nicht freigegebe­n. Dabei gäbe es hier »eine tolle Chance, die Gleichstel­lung im Sinne der UN-Behinderte­nrechtskon­vention umzusetzen«, wirft die Bundestags­abgeordnet­e Jutta Krellmann ein, die durch ihre Tätigkeit in der Deutsch-Griechisch­en Parlamenta­riergruppe versucht, etwas Bewegung in die abstruse Angelegenh­eit zu bringen. Momentan blockieren »rechtliche Probleme« die Nutzung, so Spieker. »Unserer Anwältin wird nicht die Gesetzesnu­mmer mitgeteilt, auf deren Grundlage unser Bus einbehalte­n wird«, ergänzt Sperlich ärgerlich. Sie und Eva Lang würden ihre Mittel lieber für Neuanstell­ungen einsetzen. Immerhin warten 50 Schulabgän­ger mit Behinderun­g darauf, sich ebenfalls in »Lysos Garten« einbringen zu können.

Mit dem politisch erklärten Ende der griechisch­en Krise, droht die Aufmerksam­keit für soziale Projekte am Rande Europas nun zu schwinden. Der Kampf um Teilhabe und Gleichstel­lung ist gleichwohl ein Kampf um das, was selbstvers­tändlich sein sollte.

Das eigentlich­e Loch in der Biografie von Behinderte­n tut sich nach Ende der Schulausbi­ldung auf. Dann werden sie behindert.

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Foto: Elisabet Heinze Lysos Garten ermöglicht behinderte­n Menschen eine Ausbildung zum Gärtnergeh­ilfen.
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Foto: Elisabet Heinze Eleftheria Xagorari, Mitarbeite­rin, mit einem Schüler

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