Der Krise zum Trotz
Das Behindertenprojekt »Lysos Garten« im griechischen Kalamata kämpft gegen die Krise und ums Überleben
Ein griechisches Inklusionsprojekt kämpft ums Überleben.
Mit der Ausbildung zu Gärtnergehilfen fördert das Projekt »Lysos Garten« die Entwicklung behinderter Menschen in Griechenland. Der Staat steht diesem Vorhaben oft im Wege.
Eleftheria und drei Schüler beugen sich über ein Beet, das von außen durch Holzlatten befestigt ist. »So verteilt ihr den Samen gleichmäßig«, erklärt sie. Behutsam verstreut Stravoula, so wie es die Lehrerin vorgemacht hat, die Kügelchen. Die Samen der Wintersalate landen in den Bahnen, die ihre Lehrer vorher gezogen haben.
Zu Besuch in »Lysos Garten« im südgriechischen Kalamata. Hier erlernen junge Menschen mit Behinderung den Beruf des Gärtnergehilfen. Einer von ihnen ist der 20-jährige Jannis Chatzojannis. Der Garten sei sein Lieblingsort, berichtet er begeistert. »Wir pflanzen biologisch an und verkaufen die Ernte auf dem Wochenmarkt. Mit den Erlösen können wir einen Ausflug machen.« Die Ausbildungsstätte wurde 2016 von Eva Lang und Waltraud Sperlich ins Leben gerufen. Die beiden »Auslandsdeutschen« vertreiben eigentlich im gleichnamigen LYSO-Verlag Bücher über die griechische Antike. Als das Land jedoch von der Krise getroffen wurde, haben sie das intellektuelle Engagement zeitweilig auf Eis gelegt, um praktische Hilfe zu leisten. »Was den Menschen fehlt, ist die Perspektive«, meint Eva Lang. Inspiriert wurde sie von ihrer eigenen Geschichte, ihr erwachsenes Kind lebt inzwischen wieder in Bayern, in einer betreuten Wohngemeinschaft für Erwachsene mit Behinderungen. »Durch den ständigen Kontakt zu sozialen Einrichtungen in Deutschland sah ich, was alles möglich ist.« Ihr Fazit: »Gärtnern ist mit vielseitigen körperlichen Betätigungen verknüpft, die Menschen mit ganz verschiedenen Arten und Graden von Behinderung vielseitige Arbeitsmöglichkeiten eröffnen.«
Buntes Treiben auf dem großen Gelände: Eine Gruppe niedersächsischer Gewerkschafterinnen ist zu Besuch, unter ihnen Jutta Krellmann, die für die Linkspartei im Bundestag sitzt und die auf der Peloponnes ihren Urlaub verbringt. Aufgeregt rennen zwei Schüler derweil zu einer Betreuerin, auf der Suche nach Spezialwerkzeugen für einen kleinen Auftrag am Spinat-Beet. »Nicht alle haben einen grünen Daumen, für manche ist es eine richtige Ausbildung, für andere eine schöne Beschäftigung«, erklärt Eleftheria, studierte Agrarwissenschaftlerin. Sie ist eine von fünf Angestellten mit Hochschulabschluss, die durch »Lysos Garten« der grassierenden Arbeitslosigkeit entgangen ist. Es handelt sich um eines der vielen Sozialprojekte im Lande, die sich über Spendengelder finanzieren – aber um ein seltenes, eben weil es sich der Ausbildung von Behinderten widmet.
Laut einer Statistik aus dem Jahr 2011 leben fast eine Million Menschen mit Behinderung in Griechenland – ausgenommen der Geflüchteten mit Behinderung, die sich im Land aufhalten. Das macht 9,3 Prozent der Bevölkerung aus. In der Öffentlichkeit sind sie selten zu sehen, was der Tatsache geschuldet ist, dass die Mehrheit tagein tagaus in geschlossenen Pflegeheimen oder mit der Familie verbringt. Und wer interessiert sich schon für Menschen mit Behinderung, ohne selber betroffen zu sein? Sie sind »von Gott und den Menschen vergessen«, so formulierte es Ioannis Vardakastanis, Direktor des Nationalverbands der Menschen mit Behinderung (NCDP), bei einer Demonstration vor dem Parlament in Athen im November 2015.
Dass sich ihre Lage nicht verschlechtert hat, ist für ihn das Verdienst der Behindertenbewegung. Dennoch waren die »ersten Opfer der Krise junge Menschen, ganz zu schweigen von denen mit Behinderungen«, meint Lang und legt damit den Finger in die Wunde: Für die Grundausbildung gibt es Sonderschulen. Daneben besteht die Möglichkeit, die Regelschule zu besuchen, wenn dem Schüler eine Be- treuungsperson zur Seite gestellt wird. Knackpunkt: Die Beantragung der nötigen Unterstützungsgelder ist nicht aussichtsreich, erklärt Vardakastanis dem »nd«. Ohnehin gebe es kaum angestellte Pädagogen. »Das zeigt, wie der Staat der Sache begegnet«, so der Verbandschef.
Das eigentliche Loch in der Biografie von Behinderten tut sich nach Ende der Schulausbildung auf. Dann werden sie behindert. Menschen mit Leiden wie geistiger Behinderung können ab dem 22. Lebensjahr Tagesbetreuungszentren besuchen, die nicht zu einem Beruf befähigen. Nur fünf Prozent der »Menschen mit großen Leiden« werden an der Universität zugelassen. Dort fehle es laut NCDP an den entsprechenden barrierefreien Materialien. Viele schieben den Schulabschluss künstlich auf, um tagsüber beschäftigt zu sein, weiß Waltraud Sperlich. Dabei hat Griechenland die UN-Behindertenrechtskonvention 2012 ratifiziert. Darin ist das Recht auf Bildung festgehalten: Menschen sollen beim Erwerb von Bildung nicht benachteiligt werden. Ferner wurde im September 2017 ein Gesetz beschlossen, das den Zugang zu Gebäuden erleichtern und die Inklusion voranbringen will, beispielsweise durch den Einbezug von Behinderten in öffentlichen Gremien. Der Alltag von Betroffenen könnte sich so erheblich verbessern. Doch Grundrechte werden häufiger beschworen, als gelebt. »Bis jetzt sind nicht einmal die Aufgabenbereiche in den Ministerien verteilt worden«, meint Vardakastanis.
Wie voll der Geldbeutel ist bestimmt meist, inwieweit ein selbstbestimmtes Leben möglich ist. Spricht man mit Menschen aus dem Sozialbereich, unterstellen diese den Behörden nicht selten eine gewisse Willkür bei der Vergabe öffentlicher Gelder. Dieser subjektive Vorwurf beruht auf praktischen Erfahrungen. Für Unverständnis sorgen auch die unterschiedlichen Rentensätze und Anspruchszeiträume. So erhalten geistig schwer Behinderte beispielsweise fast doppelt soviel wie körperlich schwer Behinderte. Taube werden bis zum Alter von 25 und wieder ab 65 Jahren unterstützt. Aber wie sollen sie sich zwischenzeitlich über Wasser halten? Wer stellt sie ein? Einige Gruppen verlieren ihren Rentenanspruch, wenn sie arbeiten und andere nicht. Es fehlen nachvollziehbare und einheitliche Kriterien.
Am Tisch im Schatten der hochgewachsenen Pinien tauschen sich die Besucher mit Sperlich über die Lage aus: Es geht um einen aus Deutschland gespendeten Bus, der nicht genutzt werden kann, obwohl er längst vor Ort ist. Der VW Caravelle im Wert von 12 000 Euro wurde zunächst vom griechischen Zoll mit einer horrenden Einfuhrgebühr von 22 000 Euro belegt. Die umtriebige Sperlich fand zusammen mit Parlamentariern wie Panajota Kozombolis (SYRIZA) eine temporäre Lösungen: Durch eine Schenkung ging das Fahrzeug in den Besitz des griechischen Innenministeriums, dann in den der Gemeinde Kalamata über und rückte so in nähere Reichweite. Denn die 21 Auszubildenden wohnen in der Region verteilt und müssen von Zuhause abgeholt werden, um zum Unterricht zu kommen. Theoretisch sollte die Präfektur dafür aufkommen, doch nicht alle Schüler leben im bezuschussten Gebiet. Auch Verbandschef Vardakastanis kennt derlei Probleme: »Am Ende übernehmen die Eltern den Transport.«
Anders bei »Lysos Garten«, der Verein trägt die Kosten von 400 Euro wöchentlich für das Taxi und wollte daher einen günstigeren, eigenen Fahrdienst aufbauen. Ein leidiges Dauerthema zwischen den anwesenden Unterstützerinnen, Ingrid Spieker echauffiert sich: »Unsere Geduld ist langsam erschöpft.« Die Gewerkschafterin verbringt ihren Ruhestand unter der Mittelmeersonne. Sie hatte das nötige Kleingeld im Kreis der Gewerkschaft eingetrieben und den gebrauchten VW in Deutschland besorgt. Auch Tagesschau-Sprecherin Linda Zervakis wirkte indirekt mit: Gelder aus ihrem gespendeten Gewinn über 10 000 Euro in der Quizshow »5 gegen Jauch«, die die Moderatorin dem Hamburger Förder- und Freundeskreis Elliniko e.V. übergeben hatte, wurden in das Fahrzeug investiert. Diese Gutwilligkeit der Menschen beschwingt Spieker: »Manchmal denkst du, hierher ziehen reiche Leute, die bloß in ihrem schönem Haus wohnen, aber weit gefehlt.«
Deutschland ist als eines der größten Geberländer von humanitären Hilfszahlungen bekannt: 2017 spendeten Deutsche fast drei Milliarden, 2018 sogar über 3 Milliarden Euro an gemeinnützige Organisationen und Kirchen. Auch Griechenland war wiederholt Empfänger. »Kommen die Spenden auch an«, ist eine häufig gestellte Frage. In Griechenland gleichen sie soziale Ungleichheiten aus, die sich in den Krisenjahren verschärft haben. Spenden sind oft die einzige verlässliche Einnahmequelle, denn um Gelder beim Europäischen Sozialfonds zu beantragen, braucht es einen Träger. Auch diesen sucht Waltraud Sperlich seit einem Jahr vergeblich.
Im Falle des Busses wurden die guten Absichten der Unterstützerinnen jedenfalls torpediert: Er steht vor dem Rathaus in Kalamata und wird nicht freigegeben. Dabei gäbe es hier »eine tolle Chance, die Gleichstellung im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention umzusetzen«, wirft die Bundestagsabgeordnete Jutta Krellmann ein, die durch ihre Tätigkeit in der Deutsch-Griechischen Parlamentariergruppe versucht, etwas Bewegung in die abstruse Angelegenheit zu bringen. Momentan blockieren »rechtliche Probleme« die Nutzung, so Spieker. »Unserer Anwältin wird nicht die Gesetzesnummer mitgeteilt, auf deren Grundlage unser Bus einbehalten wird«, ergänzt Sperlich ärgerlich. Sie und Eva Lang würden ihre Mittel lieber für Neuanstellungen einsetzen. Immerhin warten 50 Schulabgänger mit Behinderung darauf, sich ebenfalls in »Lysos Garten« einbringen zu können.
Mit dem politisch erklärten Ende der griechischen Krise, droht die Aufmerksamkeit für soziale Projekte am Rande Europas nun zu schwinden. Der Kampf um Teilhabe und Gleichstellung ist gleichwohl ein Kampf um das, was selbstverständlich sein sollte.
Das eigentliche Loch in der Biografie von Behinderten tut sich nach Ende der Schulausbildung auf. Dann werden sie behindert.