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Corbyn freut sich auf den Brexit

- Von Ian King, London

Endlich wagte sich der Zaudernde aus der Deckung und lief schnurstra­cks in die Richtung, die Teile seiner Partei und die zunehmend gegen den Brexit eingestell­te Öffentlich­keit nicht wollten. Labour-Chef Jeremy Corbyn gab im Interview mit dem linksliber­alen »Guardian« an, nach eventuelle­n Neuwahlen keine neue Volksabsti­mmung über den Brexit abhalten, sondern am Austritt festhalten zu wollen. Ein Verbleib in der EU würde seine Pläne, britische Industriez­weige zu verstaatli­chen oder zu subvention­ieren, unmöglich machen. Außerdem würde er bei den EU-27 bessere Bedingunge­n heraushole­n als die diskrediti­erten Tories.

Ein Sturm der Entrüstung antwortete dem 69-Jährigen. Erstens seien die EU-Partner weder bereit noch fähig, ihm zuliebe die mit May ausgehande­lten Bedingunge­n zu ändern, das mühsam zusammenge­schnürte Paket wäre auch für eine Labour-Regierung das letzte Angebot. Zweitens habe der wirtschaft­spolitisch­e Laie die Möglichkei­ten für den öffentlich­en Sektor auch innerhalb der EU nicht begriffen. Drittens und am wichtigste­n: Eine zunehmende Zahl der Briten erkennt die auch vom Tory-Finanzmini­ster Philip Hammond zugegebene Tatsache, dass selbst die europafreu­ndlichste Art von Brexit ihr Land volkswirts­chaftlich schädigen und außenpolit­isch isolieren wird.

Warum stellt sich Corbyn gegen eine zweite Abstimmung? Dass er seit 35 Jahren die EU als Kapitalist­enklub ablehnt, ist sicher ein Faktor, so stimmte er im Unterhaus konsequent gegen Verträge zur Schaffung und Vertiefung der Union. Er fürchtet auch den Verlust von Labours BrexitAnhä­ngern in Nord- und Mittelengl­and. Aber wie er die von den Tories gefährdete­n Sozial- und Umweltstan­dards außerhalb der EU verteidige­n will, bleibt sein Geheimnis. Woher er bei einer durch Brexit geschrumpf­ten Volkswirts­chaft seine Vision von Sozialismu­s in einem Land finanziere­n soll, ist auch rätselhaft. Und die Jungwähler und Studierend­en, die Corbyn nach seiner Wahl zum Parteichef als Hoffnungst­räger begrüßten und in Scharen zu Labour überliefen, knüpfen ihre Job-Perspektiv­en an die Volksabsti­mmung, die einen EU-Verbleib ermögliche­n sollte, so Richard Brooks, Labour-Aktivist und Mitbegründ­er der Remainer-Organisati­on »For Future’s Sake«.

Ein weiterer Corbyn-Freund, Michael Chessum von der linken Gruppe Momentum, mahnt: »Bewegungen brauchen interne Demokratie sowie Führer, die die Rechte der Mitglieder respektier­en.« Forscher unter Leitung von Professor Tim Bale von der Londoner Universitä­t haben herausgefu­nden, dass 72 Prozent der LabourMitg­lieder für ein zweites Referendum eintreten und dass 88 Prozent dann für Remain stimmen würden. Hier könnte Corbyn bei Mitglieder­n und Anhängern punkten sowie die Wähler im Feldzug für den Verbleib begeistern. Wenn er nur wollte.

Also: Nicht nur Labour wohlgesonn­ene Journalist­en wie Will Hutton im »Observer« und Parteirech­te wie der ehemalige Außenminis­ter David Miliband warnen, Corbyns Akzeptanz eines konservati­ven Brexits würde Labour zerstören, der Widerstand gegen den Labour-Chef umfasst vielmehr beide Parteiflüg­el. John McDonnell, der klügste linke CorbynVerb­ündete im sonst glanzlosen Schattenka­binett, hat sich vor drei Wochen sowohl für das »People’s Vote« als auch für den EU-Verbleib ausgesproc­hen. Glaubt Corbyn wirklich, alle außer ihm seien aus dem Tritt geraten? Dass es sich nicht lohnt, innerhalb der EU die Zusammenar­beit mit fortschrit­tlichen Kräften gegen Austerität­spolitik, Flüchtling­selend und Rechtsextr­emismus zu suchen? Hier droht ein linker Populist schnell unpopulär zu werden.

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