Prometheus und Zidane
Münchner Kammerspiele: »Dionysos Stadt« – zehn überwältigende Stunden Antike
Alle Enttäuschungen lösen sich in Göttern auf. Der uralte Bewusstseinstrick. So haben Glaube und Poesie schon immer den Menschen gerettet. Rettung heißt, sich durch gezielte Lüge über die unerträglichste aller Wahrheiten hinwegzusetzen: Wir leben unter der unbekannten Flugbahn jenes Pfeils, der bei unserer Geburt abgeschossen wurde – und der uns in der Sekunde unseres Todes trifft.
In hundert Jahren seien wir alle in diesem Theaterraum tot, sagt Schauspieler Nils Kahnwald im Prolog und fragt ins Publikum, wer wohl annehme, bereits in zehn Jahren gestorben zu sein. Peinliche Berührtheit im Saal. Kichern – die Frage reißt dich auf, weil du Angst vor der möglichen Antwort hast. Wir wollen nicht akzeptieren, dass unser Leben eingebettet ist in eine künftige Gleichgültigkeit der Welt – gegenüber allem, was wir tun. Unsere beschwichtigenden Fantasien, alles sei ganz anders – nichts weiter als schönste Pausen beim Sterben. Auch Theater ist so eine Pause.
An den Münchner Kammerspielen dauert das Theater an diesem Tag – zehn Stunden. »Dionysos Stadt«, nachempfunden den tagelangen Dionysos-Festen der Antike: drei Tragödien, ein Satyrspiel (Regie: Christopher Rüping, Bühne: Jonathan Mertz). Wer von den Besuchern weiß schon zu Beginn, dass er nicht durchhalten wird? Im Saal gehen Arme hoch. Einem der Zuschauer werden fünfzig Euro versprochen, wenn er bleibt. Mal sehen. Auf der Bühne eine Ampel: Schaltet sie auf grün, darf man hochkommen – und rauchen. Wucht mit Wohlfühl-Einlagen.
Ja, Wucht. Antike eben. Acht großartige, intensive Schauspieler agieren wie ein Suchtrupp in den geheimnisvollen Nebengängen eines dunklen seelischen Höhlensystems. Das sich durch die Körper aller Menschen aller Zeiten zieht – und dieses Münchner Ensemble liefert sich leise und laut, fiebernd und feiernd, furchtlos oder flehend einem Urstoff aus. Platon und Goethe, Sartre und John von Düffel, Homer und Heiner Müller, Euripides und Aischylos, Seneca und Sophokles: packender Duktus, blökender Spaß, spitze Lust, böse Bedrängung, ein Maximum an Bedeutung auf engstem Raum. Menschen im schönsten, schaurigsten Niemandsland: wo die Fragezeichen wider uns wurzeln und wachsen. Weltschöpfung? Weltbeherrschung? Ach was! Als nahe Verwandte des Staubkorns stehen, wirbeln wir am Fuße der Kathedralen.
Erster Teil: »Prometheus. Die Erfindung des Menschen«. Dann: »Troja. Der erste Krieg«. Dritter Teil: »Orestie. Verfall einer Familie«. Prometheus, schmerzbrüllend, schmerzstumm, hängt hoch, im Käfig. Zeus, der Gott vom Olymp, steigt aus dampfender Tiefe wie aus einem Baustellenloch. Er ist Araber, bebt beim Bestrafen, schleudert EnglischBrocken. Das Vorwurfsgesicht zum Titanen am Kaukasus-Felsen gerichtet: »You gave them the fire, and they will give us a war.« Die Vorwurfsfinger zeigen ins Publikum.
Der Krieg, das ist ohrenbetäubender Schlagzeuglärm, ist eine Videofarbexplosion, projiziert auf eine Wand der Glasquadrate, die bald zerschlagen werden. Peter Brombacher, der legendäre Kammerspiele-Protagonist aus B. K. Tragelehns Münchner Zeiten, verliest die unendlich lange Liste der Griechen-Heerführer und ihrer Flottenstärke. Peinigende Nüchternheit. Das dauert. Wie Walzen diese Worte der Aufzählung, du meldest die Namen deiner Fantasie weiter, die sofort die Leiber ausmalt, das Sterbensgebrüll, die Blutstürze vor Troja. Jetzt Hektor, Achill: alles ganz Leid, ganz Lüsternheit. Die Götter? Tot. Der Mensch nahm alles selbst in die Hand. Vor allem den Stein, der erschlägt. Der Mensch nun selber Gott? Über dieser Vision wird er zum Gespenst. Hochgerüstet, tiefgesunken. Immer hat man sehr viel getan – meist das Falsche. So kippt sich Geschichte von Extrem zu Extrem. Die Frauen Trojas: von den Griechen zu Sklavinnen niederge- stampft. Kassandra, Kriegsmitbringsel des geilen Agamemnon: ein neurotisch zernichtetes Bündel Unglück. Das Vorhersagetalent, dem niemand glaubt. »Ich bin der Untergang.« Wahrheit ist immer der Untergang.
Orestie – von Rüping wie eine TVDaily Soap inszeniert, mit Videospiel zwischen »Dallas« und »Sturm der Liebe«. Klytaimnestra ermordet ihren Gatten Agamemnon – er hatte die gemeinsame Tochter Iphigenie fürs Kriegsglück geopfert. Die Geschwister Elektra und Orest schliddern nun ins Endlosschraubwerk der Rache. Furcht vor der Zukunft? Das heißt nur noch: Furcht zu haben, den richtigen Moment des Tötens zu versäumen.
Rüping besticht durch einen geradezu athletischen Ausgleichswillen zwischen Drama und Spektakel. Die Tragödie flirtet mit dem Spaßfaktor, das Augenzwinkern koaliert keck mit der Schmerzensträne. Die Bühne mal Stahltreppe, mal Wandgerüst, mal Wohnfläche mit Partycharme. Das Badezimmer ist Mordpfuhl. Dort die immergleiche Weise, Blut schwappen zu lassen: die Eimerweise. Udo Jürgens’ »Griechischer Wein« geht unverschämt schnell über ins neuerliche Auftauchen von Prometheus, weißbenässt vom Adlerkot: Er tötet rundum, vernichtet eine Hochzeitsfeier, mit sanften Händen, er richtet den Menschen, der das Feuer so anmaßend missbraucht. Beklemmend, wie er langsam durchs Publikum streift, so wach wie abwesend, die zum Colt geformten Finger auf Zuschauerschläfen richtend. Und imaginär abdrückt. Und dann das Thea- ter nach draußen verlässt: Amok, ein Vollzeitjob.
Maja Beckmann, Peter Brombacher, Majd Feddah, Nils Kahnwald, Gro Swantje Kohlhof, Wiebke Mollenhauer, Matze Pröllochs, Benjamin Radjaipour: Grandios! Dirty-Dämo- nie ist die Domäne aller. Heiliger Poesiezauber wird auch mal zum Gossen-Granulat zerrieben. Das Lavieren zeigt seinen Striptease, das Lauern seine schrägen Augen, der Hass geilt sich auf, die Würde wird vom Tisch gejagt. Jede Moderne eine Antike der Zukunft; jede Antike die versunkenste aller Modernen.
So wird der Blick zurück in die Mythen zum Lehrstück gegenwärtigen Weltenlaufs, in dem wir als kluge Idioten feststecken. Die Anklage gegen die globalisierten Zustände füllt zwar Zeitungen – und bleibt doch leerlaufendes Getön. Der Zorn besetzt demonstrierend Straßen – und doch behält der Krieg die Vorfahrt. Der Schmerzschrei belagert die Lüfte – aber die Geschosse feiern freien Flug. Wir zerfetzen uns analytisch die Mäuler über die Kompli- ziertheit der Welt – die zerfetzten Leiber in den Nachrichten aber sagen die ganz einfache nackte Wahrheit.
Da wirkt es auf den ersten Blick wie ein arger Rutsch ins Banale, wenn jetzt auf der Bühne sehr, sehr lange – Fußball gespielt wird. Aber wohl würdig des Dionysos, dem zu Ehren Feiern stattfanden, die Sport und Theater ganz selbstverständlich miteinander verbanden. Ab und zu ein Dröhnen (Flugzeuge?), einzelne (Fußball-)Spieler erstarren kurz, schauen gebannt in den Himmel. Als sei da im gegenwärtigen Gesellschaftsspielbetrieb, also im Rausch der allwaltenden Selbstermächtigungen und des politischen Autoritätsüberdrusses unbedingt an etwas zu erinnern: an die Kraft eines Außerhalb, eines über uns Stehenden, das Demut auslösen könnte.
Nils Kahnwald spricht den Epilog. Ein Essay des französischen Schriftstellers Jean-Philippe Toussaint übers WM-Endspiel 2006 im Berliner Olympiastadion – als Zinedine Zidane zum Kopfstoß gegen den Italiener Marco Materazzi ansetzte: »Den eigenen Abgang zu vermasseln, lässt alle Perspektiven offen, lässt die Zukunft im Dunkeln und hält sie damit lebendig.« Ein Mensch, der plötzlich macht, was jedem Kunstwerk aufgetragen ist: Lücken zu erzeugen, Löcher zu reißen in die Routine der Bewertungen. Wir werden uns an Zidane länger erinnern als an Sieger – die weit entfernt vom Ziel sind. Welch ein Sieg. Des Menschen über das Gesetz, das ihn schuf.
Am Ende des Marathons zehn Minuten stehender Beifall! Theater, das die Widerlichkeit des Politischen ins eishelle Licht zerrt. Ein Deus ex Machina schwebte herab, als sei der Himmel eine einzige Lächerlichkeit. Aber dass ein Hochgefühl von Friedenshoffnung nicht zu tilgen ist, das hatte Rüping in diesen zehn Stunden keineswegs geleugnet, und diesem Gefühl beließ er die schwebenden, nicht sofort greifbaren Gründe. Der Prolog der Inszenierung hatte mit traurig zynischen Worten den Untergang der verderbten Menschheit albgeträumt – dann aber in trotzig lächelnder Naivität das Bild einer Auferstehung entworfen: Eine neue Menschheit sitzt vor ihren Höhlen, bestaunt in beglückender Friedfertigkeit – einen Sonnenaufgang. Diese Sonne lässt Rüping jetzt, zehn Stunden später, gelb und groß im Bühnenhintergrund aufgehen, davor das Schattensitzbild seines Ensembles. Alles ist aus, immer erst dann fangen wir an.
So also behauptet das Theater: Um jeden Kern bitterer Erfahrungen schmiegt sich das Umlicht eines Zaubers. Vielleicht ist der Mensch ein armseliger Bettler, Totschläger. Aber vorm eindringlichen Sonnenrad wirkt er, auch wenn er nur ein Schattenbild ist, als habe er möglicherweise ein Gesicht, das Altarbildern entstammt. Und die versprochenen fünfzig Euro gehen an den Zuschauer, der eigentlich früher gehen wollte.
Wir wollen nicht akzeptieren, dass unser Leben eingebettet ist in eine künftige Gleichgültigkeit der Welt – gegenüber allem, was wir tun.
Nächste Vorstellungen: 8. und 10. Februar