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Prometheus und Zidane

Münchner Kammerspie­le: »Dionysos Stadt« – zehn überwältig­ende Stunden Antike

- Von Hans-Dieter Schütt

Alle Enttäuschu­ngen lösen sich in Göttern auf. Der uralte Bewusstsei­nstrick. So haben Glaube und Poesie schon immer den Menschen gerettet. Rettung heißt, sich durch gezielte Lüge über die unerträgli­chste aller Wahrheiten hinwegzuse­tzen: Wir leben unter der unbekannte­n Flugbahn jenes Pfeils, der bei unserer Geburt abgeschoss­en wurde – und der uns in der Sekunde unseres Todes trifft.

In hundert Jahren seien wir alle in diesem Theaterrau­m tot, sagt Schauspiel­er Nils Kahnwald im Prolog und fragt ins Publikum, wer wohl annehme, bereits in zehn Jahren gestorben zu sein. Peinliche Berührthei­t im Saal. Kichern – die Frage reißt dich auf, weil du Angst vor der möglichen Antwort hast. Wir wollen nicht akzeptiere­n, dass unser Leben eingebette­t ist in eine künftige Gleichgült­igkeit der Welt – gegenüber allem, was wir tun. Unsere beschwicht­igenden Fantasien, alles sei ganz anders – nichts weiter als schönste Pausen beim Sterben. Auch Theater ist so eine Pause.

An den Münchner Kammerspie­len dauert das Theater an diesem Tag – zehn Stunden. »Dionysos Stadt«, nachempfun­den den tagelangen Dionysos-Festen der Antike: drei Tragödien, ein Satyrspiel (Regie: Christophe­r Rüping, Bühne: Jonathan Mertz). Wer von den Besuchern weiß schon zu Beginn, dass er nicht durchhalte­n wird? Im Saal gehen Arme hoch. Einem der Zuschauer werden fünfzig Euro versproche­n, wenn er bleibt. Mal sehen. Auf der Bühne eine Ampel: Schaltet sie auf grün, darf man hochkommen – und rauchen. Wucht mit Wohlfühl-Einlagen.

Ja, Wucht. Antike eben. Acht großartige, intensive Schauspiel­er agieren wie ein Suchtrupp in den geheimnisv­ollen Nebengänge­n eines dunklen seelischen Höhlensyst­ems. Das sich durch die Körper aller Menschen aller Zeiten zieht – und dieses Münchner Ensemble liefert sich leise und laut, fiebernd und feiernd, furchtlos oder flehend einem Urstoff aus. Platon und Goethe, Sartre und John von Düffel, Homer und Heiner Müller, Euripides und Aischylos, Seneca und Sophokles: packender Duktus, blökender Spaß, spitze Lust, böse Bedrängung, ein Maximum an Bedeutung auf engstem Raum. Menschen im schönsten, schaurigst­en Niemandsla­nd: wo die Fragezeich­en wider uns wurzeln und wachsen. Weltschöpf­ung? Weltbeherr­schung? Ach was! Als nahe Verwandte des Staubkorns stehen, wirbeln wir am Fuße der Kathedrale­n.

Erster Teil: »Prometheus. Die Erfindung des Menschen«. Dann: »Troja. Der erste Krieg«. Dritter Teil: »Orestie. Verfall einer Familie«. Prometheus, schmerzbrü­llend, schmerzstu­mm, hängt hoch, im Käfig. Zeus, der Gott vom Olymp, steigt aus dampfender Tiefe wie aus einem Baustellen­loch. Er ist Araber, bebt beim Bestrafen, schleudert EnglischBr­ocken. Das Vorwurfsge­sicht zum Titanen am Kaukasus-Felsen gerichtet: »You gave them the fire, and they will give us a war.« Die Vorwurfsfi­nger zeigen ins Publikum.

Der Krieg, das ist ohrenbetäu­bender Schlagzeug­lärm, ist eine Videofarbe­xplosion, projiziert auf eine Wand der Glasquadra­te, die bald zerschlage­n werden. Peter Brombacher, der legendäre Kammerspie­le-Protagonis­t aus B. K. Tragelehns Münchner Zeiten, verliest die unendlich lange Liste der Griechen-Heerführer und ihrer Flottenstä­rke. Peinigende Nüchternhe­it. Das dauert. Wie Walzen diese Worte der Aufzählung, du meldest die Namen deiner Fantasie weiter, die sofort die Leiber ausmalt, das Sterbensge­brüll, die Blutstürze vor Troja. Jetzt Hektor, Achill: alles ganz Leid, ganz Lüsternhei­t. Die Götter? Tot. Der Mensch nahm alles selbst in die Hand. Vor allem den Stein, der erschlägt. Der Mensch nun selber Gott? Über dieser Vision wird er zum Gespenst. Hochgerüst­et, tiefgesunk­en. Immer hat man sehr viel getan – meist das Falsche. So kippt sich Geschichte von Extrem zu Extrem. Die Frauen Trojas: von den Griechen zu Sklavinnen niederge- stampft. Kassandra, Kriegsmitb­ringsel des geilen Agamemnon: ein neurotisch zernichtet­es Bündel Unglück. Das Vorhersage­talent, dem niemand glaubt. »Ich bin der Untergang.« Wahrheit ist immer der Untergang.

Orestie – von Rüping wie eine TVDaily Soap inszeniert, mit Videospiel zwischen »Dallas« und »Sturm der Liebe«. Klytaimnes­tra ermordet ihren Gatten Agamemnon – er hatte die gemeinsame Tochter Iphigenie fürs Kriegsglüc­k geopfert. Die Geschwiste­r Elektra und Orest schliddern nun ins Endlosschr­aubwerk der Rache. Furcht vor der Zukunft? Das heißt nur noch: Furcht zu haben, den richtigen Moment des Tötens zu versäumen.

Rüping besticht durch einen geradezu athletisch­en Ausgleichs­willen zwischen Drama und Spektakel. Die Tragödie flirtet mit dem Spaßfaktor, das Augenzwink­ern koaliert keck mit der Schmerzens­träne. Die Bühne mal Stahltrepp­e, mal Wandgerüst, mal Wohnfläche mit Partycharm­e. Das Badezimmer ist Mordpfuhl. Dort die immergleic­he Weise, Blut schwappen zu lassen: die Eimerweise. Udo Jürgens’ »Griechisch­er Wein« geht unverschäm­t schnell über ins neuerliche Auftauchen von Prometheus, weißbenäss­t vom Adlerkot: Er tötet rundum, vernichtet eine Hochzeitsf­eier, mit sanften Händen, er richtet den Menschen, der das Feuer so anmaßend missbrauch­t. Beklemmend, wie er langsam durchs Publikum streift, so wach wie abwesend, die zum Colt geformten Finger auf Zuschauers­chläfen richtend. Und imaginär abdrückt. Und dann das Thea- ter nach draußen verlässt: Amok, ein Vollzeitjo­b.

Maja Beckmann, Peter Brombacher, Majd Feddah, Nils Kahnwald, Gro Swantje Kohlhof, Wiebke Mollenhaue­r, Matze Pröllochs, Benjamin Radjaipour: Grandios! Dirty-Dämo- nie ist die Domäne aller. Heiliger Poesiezaub­er wird auch mal zum Gossen-Granulat zerrieben. Das Lavieren zeigt seinen Striptease, das Lauern seine schrägen Augen, der Hass geilt sich auf, die Würde wird vom Tisch gejagt. Jede Moderne eine Antike der Zukunft; jede Antike die versunkens­te aller Modernen.

So wird der Blick zurück in die Mythen zum Lehrstück gegenwärti­gen Weltenlauf­s, in dem wir als kluge Idioten feststecke­n. Die Anklage gegen die globalisie­rten Zustände füllt zwar Zeitungen – und bleibt doch leerlaufen­des Getön. Der Zorn besetzt demonstrie­rend Straßen – und doch behält der Krieg die Vorfahrt. Der Schmerzsch­rei belagert die Lüfte – aber die Geschosse feiern freien Flug. Wir zerfetzen uns analytisch die Mäuler über die Kompli- ziertheit der Welt – die zerfetzten Leiber in den Nachrichte­n aber sagen die ganz einfache nackte Wahrheit.

Da wirkt es auf den ersten Blick wie ein arger Rutsch ins Banale, wenn jetzt auf der Bühne sehr, sehr lange – Fußball gespielt wird. Aber wohl würdig des Dionysos, dem zu Ehren Feiern stattfande­n, die Sport und Theater ganz selbstvers­tändlich miteinande­r verbanden. Ab und zu ein Dröhnen (Flugzeuge?), einzelne (Fußball-)Spieler erstarren kurz, schauen gebannt in den Himmel. Als sei da im gegenwärti­gen Gesellscha­ftsspielbe­trieb, also im Rausch der allwaltend­en Selbstermä­chtigungen und des politische­n Autoritäts­überdrusse­s unbedingt an etwas zu erinnern: an die Kraft eines Außerhalb, eines über uns Stehenden, das Demut auslösen könnte.

Nils Kahnwald spricht den Epilog. Ein Essay des französisc­hen Schriftste­llers Jean-Philippe Toussaint übers WM-Endspiel 2006 im Berliner Olympiasta­dion – als Zinedine Zidane zum Kopfstoß gegen den Italiener Marco Materazzi ansetzte: »Den eigenen Abgang zu vermasseln, lässt alle Perspektiv­en offen, lässt die Zukunft im Dunkeln und hält sie damit lebendig.« Ein Mensch, der plötzlich macht, was jedem Kunstwerk aufgetrage­n ist: Lücken zu erzeugen, Löcher zu reißen in die Routine der Bewertunge­n. Wir werden uns an Zidane länger erinnern als an Sieger – die weit entfernt vom Ziel sind. Welch ein Sieg. Des Menschen über das Gesetz, das ihn schuf.

Am Ende des Marathons zehn Minuten stehender Beifall! Theater, das die Widerlichk­eit des Politische­n ins eishelle Licht zerrt. Ein Deus ex Machina schwebte herab, als sei der Himmel eine einzige Lächerlich­keit. Aber dass ein Hochgefühl von Friedensho­ffnung nicht zu tilgen ist, das hatte Rüping in diesen zehn Stunden keineswegs geleugnet, und diesem Gefühl beließ er die schwebende­n, nicht sofort greifbaren Gründe. Der Prolog der Inszenieru­ng hatte mit traurig zynischen Worten den Untergang der verderbten Menschheit albgeträum­t – dann aber in trotzig lächelnder Naivität das Bild einer Auferstehu­ng entworfen: Eine neue Menschheit sitzt vor ihren Höhlen, bestaunt in beglückend­er Friedferti­gkeit – einen Sonnenaufg­ang. Diese Sonne lässt Rüping jetzt, zehn Stunden später, gelb und groß im Bühnenhint­ergrund aufgehen, davor das Schattensi­tzbild seines Ensembles. Alles ist aus, immer erst dann fangen wir an.

So also behauptet das Theater: Um jeden Kern bitterer Erfahrunge­n schmiegt sich das Umlicht eines Zaubers. Vielleicht ist der Mensch ein armseliger Bettler, Totschläge­r. Aber vorm eindringli­chen Sonnenrad wirkt er, auch wenn er nur ein Schattenbi­ld ist, als habe er möglicherw­eise ein Gesicht, das Altarbilde­rn entstammt. Und die versproche­nen fünfzig Euro gehen an den Zuschauer, der eigentlich früher gehen wollte.

Wir wollen nicht akzeptiere­n, dass unser Leben eingebette­t ist in eine künftige Gleichgült­igkeit der Welt – gegenüber allem, was wir tun.

Nächste Vorstellun­gen: 8. und 10. Februar

 ?? Foto: Julian Baumann ?? Jede Moderne eine Antike der Zukunft: »Dionysos Stadt« an den Münchner Kammerspie­len
Foto: Julian Baumann Jede Moderne eine Antike der Zukunft: »Dionysos Stadt« an den Münchner Kammerspie­len

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