Verbrecherjäger und Ordnungshüter: Worin die moderne Polizei der frühneuzeitlichen ähnelt.
Von Sozialdisziplinierung zur Verbrecherjagd und zurück: zum Hüten der Ordnung.
Die Polizei steht regelmäßig im Zentrum gesellschaftspolitischer Debatten. Meist geht es dabei um die Frage, inwieweit sie im Rahmen der Legalität agiert oder diesen mitunter auch verlässt, weil sie vorgeblich im allgemeinen Sicherheitsinteresse ihren Ermessensspielraum ausdehnt, was in soziale Ausnahmesituationen münden kann. Teilnehmer von Demonstrationen, die sich regelmäßig in ihrem Versammlungsrecht beschnitten fühlen, können davon ebenso ein Lied singen wie zum Beispiel migrantische Jugendliche vornehmlich aus einfachen Verhältnissen, die bei verdachtsunabhängigen Kontrollen überdurchschnittlich oft Ziel polizeilicher Überprüfung werden.
Im Zuge neuer Polizeigesetze, die derzeit in vielen Bundesländern verhandelt werden und im CSU-geführten Bayern schon verabschiedet sind, wird die Rolle der Polizei kontrovers diskutiert. Gefühlt wird fast jedes zweite Wochenende ob in Brandenburg, NRW oder woanders gegen eine Ausweitung polizeilicher Kompetenzen demonstriert. In München fanden 2018 gegen das neue Polizeigesetz, das für andere Gesetzentwürfe als Wegmarke gilt, so große Demonstrationen statt wie seit den 1980er Jahren nicht mehr, als massenhaft gegen die geplante Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf protestiert wurde. Dabei werden neben einer weiteren Aufrüstung der Polizei – unter anderem mit Handgranaten zur Ausübung von Zwang – vor allem weitreichende Kompetenzen im präventiven Bereich kritisiert. Zum Beispiel die vorsorgliche Sicherungsverwahrung, aber auch die Möglichkeit, im Zuge polizeilicher Gefahreneinschätzung tätig zu werden, bevor überhaupt eine Straftat begangen wurde.
Auch in diesem Zusammenhang lohnt ein Blick in den gerade im CampusVerlag erschienenen Sammelband »Kritik der Polizei«, den der an der Berliner HumboldtUniversität lehrende Sozialwissenschaftler Daniel Loick herausgegeben hat. Die knapp zwanzig Texte des Sammelbandes beleuchten das Thema »Polizei« aus unterschiedlichen Blickwinkeln, gehen auf weiter zurückliegende, aber auch auf jüngste historische Entwicklungen ein und eröffnen ebenso Einblicke in wissenschaftliche wie in politische Debatten. Sie stammen von französischen, englischen, amerikanischen und deutschen Soziologen, aber auch von politischen Aktivisten und Gruppen, die sich kritisch mit der Polizei, ihrer Geschichte, ihrem Auftreten, ihrem Agieren und damit verbundenen politischen und sozialen Konsequenzen beschäftigen.
Repression und Prävention
»Polizei« und »Verbrechen« sind beständige Reizthemen, anhand derer sich fortschrittliche und reaktionäre Haltungen kristallisieren – nicht immer eindeutig. Wenn der krachlederne Mainstream ein »härteres Durchgreifen gegen Kriminelle« fordert, kontern Linksliberale oft mit der Forderung, der Staat solle präventiv tätig werden und die Entstehung von Kriminalität verhindern, statt hinterher repressiv draufzuhauen. Ist darin aber nicht auch eine Forderung enthalten, die aus linksliberaler Sicht zurückzuweisen ist – nämlich nach Einmischung, nach Schnüffeln und Gängeln? Die Antwort lautet dann, es solle sich ja nicht unbedingt die Polizei früher einmischen, sondern etwa die Sozialarbeit und die Jugendhilfe; im engeren Sinn polizeiliche »Prävention« wie das Einsperren vor einer Tat lehne man ab.
Doch abgesehen von jenen Tendenzen einer sozusagen präventiven Repression, die im Festsetzen nur potenzieller Täter auf eine Spitze getrieben werden, rennt die For- derung nach einer präventiven Polizei in offene Türen. Denn grundsätzlich, das sprechen mehrere Beiträge des Bandes an, ist die neoliberale, postfordistische Epoche von einem polizeilichen Präventionsgedanken geprägt, während im Fordismus eine »nur« reagierende, tatsächlich geschehende Straftaten bearbeitende Polizei die Norm war.
Zur Verwirrung trägt in dem Sinn auch bei, dass das Polizeiwesen der heute als finster, autoritär und uniformiert wahrgenommenen 1950er oder 1960er Jahre derjenigen der frühen Neuzeit tatsächlich nicht näher, sondern erheblich ferner stand als das heutige. Als nämlich der Begriff der »Policey« entstand, war damit nicht die kriminologische Aufklärung von Verbrechen gemeint, sondern die Regulierung und Disziplinierung des gesamten Lebens – medizinische Kontrolle, Unterkunft der Stadtbevölkerung, Lebensmittelversorgung, sogar die Bearbeitung der Geburtenrate fielen unter diesen Begriff. »Policey« stand allgemein, wie es der frühneuzeitliche Polizeitheoretiker Johann Heinrich Gottlob Justi ausdrückte, für die Sicherung des »Glücks der Untertanen«. Historisch ist die Rede vom »Polizeistaat« ein Pleonasmus: Der moderne Staat entstand geradezu in der »Policey«. Diese trug ihn in die wachsenden urbanen Räume, wo bei zunehmender Landflucht eine neue Klasse vagabundierender Armer zu disziplinieren war. Erst allmählich differenziert sich dieser Komplex aus allgemeiner städtischer Ordnungshüterschaft, aus Nachtwachen, ländlichen Dorfwachtmeistern in diejenigen Organe aus, die wir heute Polizei nennen – wobei auch die kolonialen Sklavenpatrouillen eine oft unterschätzte Rolle spielen.
Die Polizei auf Verbrecherjagd, die wir heute aus dem »Tatort« kennen, ist indes längst nur noch ein kleiner Ausschnitt der tatsächlichen heutigen Polizei. Der Polizist ist auch – und das ist ebenfalls ein kulturindustriell immer wieder bemühtes Bild – eine Art Sozialarbeiter. Der Schupo oder der Kontaktbereichsbeamte, wie er in West-Berlin in den 1970er Jahren installiert wurde, sucht die Nähe zum Bürger, kennt die Regeln »der Straße« und gehört selbst zum sozialen Mikrokosmos des urbanen Kiezes. Dieser »Straßenbürokrat«, wie ihn die Polizeiwissenschaft nennt, kommt am ehesten dem Bild vom »Freund und
Helfer« nahe; zweifelsfrei patrouillieren auf den Straßen auch sozial überaus kompetente
Beamte, die mit Augenmaß deeskalierend auf bestimmte Situationen einwirken. Dem gegenüber steht freilich die »Cop-Culture«, ein vor allem männlich codierter und jenseits der »Political Correctness« verankerter Gruppenhabitus von Polizeibeamten: »In ihr ist der Bürger nicht Kunde, sondern Herrschaftsunterworfener. Und der Polizist ist nicht Dienstleister, sondern Vertreter der Staatsmacht«, schreibt im Band Rafael Behr – der selbst Professor an der Akademie der Polizei in Hamburg ist. So lässt der große Ermessensspielraum, innerhalb dessen der »Beamte auf der Straße« walten kann, auch viel raum für Willkür.
Die Cop-Culture in prekären französischen Banlieues hat der Soziologe Didier Fassin über 15 Monate erforscht. Zwischen 2005 und 2007 – kurz nach den mas- siven Ausschreitungen, die es damals gegeben hatte – begleitete er Polizeistreifen. Im Ergebnis zeichnet Fassin das Bild einer Polizei, die bei ihren Personenkontrollen soziale Hackordnungen reproduziert: Augenscheinlichen Sprösslingen der Upper Middle Class schaut man amüsiert beim Kiffen zu, während in ärmeren Vierteln geringfügige Verstöße gegen Drogengesetze scharf geahndet werden. Neben der klassistischen spielt dabei die rassistische Komponente eine gewichtige Rolle, sind doch primär migrantische Jugendliche ihr Ziel. »Auf die Provokationen der Polizei nicht einzugehen, ist ein Leitmotiv der Erziehung in den Sozialbausiedlungen«, schreibt Fassin.
Augenscheinlichen Sprösslingen der Upper Middle Class schaut man amüsiert beim Kiffen zu, während in ärmeren Vierteln geringfügige Verstöße gegen Drogengesetze scharf geahndet werden.
Selbsterfüllende Prophetie
Aufseiten der Polizisten wiederum spielen bei diesen Praktiken die – oft verhassten – Festnahmequoten eine Rolle. Die Beamten stehen unter »Erfolgsdruck«, der statistisch evaluiert wird. Dass unter dem Kürzel NPM – New Public Management – bekannte Effektivierungsstrategien aus dem privatwirtschaftlichen Bereich inzwischen auch bei der Polizei eine zunehmende Rolle spielen, trägt wiederum zu einem Effekt sich selbst erfüllender Prophezeiung bei: Dort, wo viel kontrolliert wird, steigen die gemessenen Straftaten.
Gleichzeitig – und hier nähert sich die heutige jener frühneuzeitlichen »Policey« teils frappierend an –, ist die in ihrer Effizienz durchleuchtete moderne Polizei aber auch anderweitig eingebunden. Es gibt etwa Sicherheitspartnerschaften mit verschiedensten Institutionen sozialer Arbeit – vom Frauenhaus bis zur Obdachlosenbetreuung. Gerade im letztgenannten Bereich geht es vermehrt darum, im öffentlichen Raum sogenanntes deviantes Verhalten marginalisierter Personen zu unterbinden; dieser Auftrag der Präventionspolizei wird nicht selten von lautstarken öffentlichen Forderungen nach einem »Durchgreifen« begleitet.
Das zeigte sich etwa im Zusammenhang mit der Kölner Silvesternacht von 2015, in der vor dem dortigen Hauptbahnhof aus einer Menge augenscheinlich weit überwiegend nicht-deutscher junger Männer heraus vornehmlich Frauen belästigt und bestohlen wurden. Im Nachgang führte die Polizei zahlreiche Razzien in migrantischen Vierteln durch, wobei das von der Straße aus aufgenommene Bild eines Polizisten, der in einem Imbiss einem Mann mit behandschuhter Hand das Gesicht nach hinten drückt und ihn so zwingt, sich hinzusetzen, eine regelrechte Ikone dieser rassistisch gefärbten Forderungen nach dem »Durchgreifen« lieferte. Diese mediale Inszenierung einer handlungsfähigen Polizei sollte die geforderte Härte bezeugen, auch wenn dabei womöglich rechtsstaatliche Normen außer Kraft gesetzt oder rassistische Diskurse bedient wurden. In einem Strategiepapier der Polizei in NRW wird inzwischen ausdrücklich gefordert, »dass die Polizeibeamt*innen lernen sollten, robuster aufzutreten, um der gegen sie gerichteten Gewalt besser begegnen zu können.« Der robuste Polizist hat in Zeiten der Terrorabwehr nach dem 11. September 2001 und den Anschlägen in Frankreich Hochkonjunktur. Auch die Aufrüstung der Polizei im Zuge neuer Gesetze steht in diesem Zusammenhang.
Der robuste Polizist
Aber im Alltag jenseits der die Gesetzgebung prägenden Terrorabwehr tritt die wehrhafte, robuste Polizei vor allem im Zusammenhang mit den als von Polizeibehörden ausge- wiesenen »gefährlichen Orten« in diversen deutschen Großstädten auf. Nicht selten werden die dortigen Gefahrenlagen durch eine Skandalisierung in den Medien und dem darin eingelassenen Ruf konservativer Politiker nach »Law and Order« erst richtig befeuert. Warum genau ein solcher Ort als »gefährlich« eingestuft wird, bleibt dabei intransparent: Die Polizei legt selbst keinerlei Statistiken vor, aus denen sich diese besondere Gefahrenlage ablesen ließe.
Hierbei fällt, wie im Sammelband das »Autor*innenkollektiv der Berliner Kampagne Ban! Racial Profiling – Gefährliche Orte abschaffen« schreibt, eines auf: Dass nämlich »die Klassifizierung der jeweiligen Gebiete nur im Kontext der umkämpften Stadt« zu begreifen ist. In Berlin befänden sich »gefährliche Orte« wie etwa das Kottbusser Tor, der Alexanderplatz, der Hermannplatz und die Warschauer Straße nicht zufällig in Gegenden, in denen »Gentrifizierungsprozesse mit besonderer Härte« einschlagen. Insofern wird die Polizei hier jenseits der Verbrechensbekämpfung auch zu einem politischen Akteur in nicht nur sozialem, sondern auch ökonomischem Kontext. Durch eine mitunter offensive mediale Selbstdarstellung – gerade auch mithilfe Sozialer Medien – versucht sich die Polizei hierbei als gesellschaftspolitischer Partner mit der nötigen Sozialkompetenz zu etablieren, gerade auch hinsichtlich multikultureller Anforderungen – was die migrantischen Jugendlichen, die an solchen Orten überdurchschnittlich oft kontrolliert werden, sicher etwas anders sehen dürften.
Dieses Spannungsverhältnis zwischen Anspruch und Wirklichkeit ist prägend für die Debatten um eine Polizei, deren Eingriffsmöglichkeiten im öffentlichen Raum in den kommenden Jahren noch deutlich zunehmen werden. Auf der einen Seite sollen sich Beamte im Zuge von Terrorgefahrenabwehr und angeblich zunehmenden sozialen Spannungen in Großstädten »robust« durchsetzen. Zugleich sollen sie »moderne« Anforderungen erfüllen, was sich auch in der Einstellungspolitik der Polizei spiegelt, die höhere Schulabschlüsse bevorzugt. Die zunehmende Digitalisierung, erweiterte Zugriffs- rechte auf Kommunikationsdaten, Kontrolltechniken wie Nacktscanner und Gesichtserkennungsprogramme führen ebenfalls zu einer zusätzlichen Ausweitung der Möglichkeiten polizeilicher Arbeit, die gesetzgeberisch noch nicht abschließend bewertet und eingegrenzt sind. Überdies werden Beamte durch neue gesetzliche Sonderregelungen bei Angriffen besser geschützt als der Bürger, erhalten also einen außerordentlichen rechtlichen Status.
So weitet sich die Macht der Polizei insgesamt und sukzessive aus. Von allem gibt es immer mehr – mehr Mittel und Kompetenzen beim repressiven Zugriff, aber auch mehr Möglichkeiten zu präventivem, ja gestaltenden Handeln. Die heutige Polizei wird in dieser Weise, wenn natürlich auch auf neuer historischer Stufe, der »Policey« der frühneuzeitlichen, absolutistischen Welt wieder ähnlicher. Und wenn man für das Damals feststellen kann, das am Anfang moderner Staatlichkeit die »Policey« stand, erhebt sich für die Zukunft die Frage, was an deren Ende stehen könnte.
So weitet sich die Macht der Polizei insgesamt und sukzessive aus. Von allem gibt es mehr – Mittel und Kompetenzen beim repressiven Zugriff, aber auch mehr Möglichkeiten eines präventiven, ja eines gestaltenden Handelns.