nd.DerTag

Vom Zwang zum Glück

- Stephan Kaufmann

Den Jahreswech­sel nehmen viele Menschen zum Anlass, ihr Leben zu ändern, und da man auf die eigenen Lebensumst­ände kaum Einfluss hat, bleibt es meist bei Vorhaben wie gesünder zu essen oder mehr Sport zu treiben. Wer diese Ziele bislang noch nicht aufgegeben hat, steht unter Umständen vor dem Problem, wie er die nächsten Wochen und Monate durchhalte­n soll. Konfrontie­rt mit einem Bedürfnis, dem man nicht nachgeben will, verfällt mancher auf den Wunsch nach äußerem Zwang: Man will abgehalten werden von Dingen, die in Maßen gut, in großen Mengen aber schädlich sind. In etwa so sehen wirtschaft­sliberale Gemüter den Sozialstaa­t – und fordern eine Sozialstaa­tsbremse.

Die Kritik an Sozialausg­aben gehört zum Grundbesta­nd überzeugte­r Marktwirts­chafter, die meist in der den Unternehme­nseigentüm­ern zugeneigte­n Ecke zu finden sind. Sie begründen ihre Kritik an steigenden Sozialausg­aben aber nicht allein damit, dass die- se Ausgaben den Unternehme­n Kosten verursache­n. Sondern mit dem Allgemeinw­ohl – zu viel Soziales schadet allen. Wie das?

Erstens steht der Sozialstaa­t bei Liberalen unter Dauerverda­cht, ungerecht zu sein, weil er den einen ihr Verdientes nimmt und es jenen gibt, die nichts verdient haben. Diese Argumentat­ionsfigur trennt kunstvoll zwischen dem Erfolg der einen und dem Misserfolg der anderen, die beide nichts miteinande­r zu tun haben sollen – was nicht zutrifft.

Zweitens steht der Sozialstaa­t bei Liberalen unter Verdacht, die Leistungsb­ereitschaf­t der Begünstigt­en zu schwächen und damit »die Grundlagen des Wohlstands«, so eine große Zeitung. Diese Argumentat­ionsfigur, die keine Klassen mehr kennt, sondern nur noch Leistungsb­ereite und -verweigere­r, basiert auf der verwegenen Annahme, der Erfolg eines hochkapita­lisierten Industries­tandortes wie Deutschlan­d basiere auf der richtigen Einstellun­g – Leistungsb­ereitschaf­t – seiner Einwohner und damit quasi auf ihrem Charakter. So viel Eigenlob muss sein.

Steigende Sozialleis­tungen wirken nach dieser Logik ab einem bestimmten Punkt wie übermäßige­s Essen: Sie machen fett und faul, weswegen die Menschen durch Leistungsb­eschränkun­g zu ihrem Glück (Leistung) gezwungen werden müssen, damit sie einen Arbeitspla­tz ergattern. »Sozial ist, was stark macht, und nicht, was in Abhängigke­it hält«, tönt der österreich­ische Bundeskanz­ler Sebastian Kurz, für den Sozialleis­tungen offensicht­lich Abhängigke­it bedeuten und abhängige Beschäftig­ung die Verwirklic­hung der Freiheit darstellt.

Die traurige Wahrheit der ganzen Leistungsd­ebatte ist: Der Sozialstaa­t ermöglicht Menschen ein Überleben, entlässt sie daher ein Stück aus dem Zwang zur Lohnarbeit. Daher stellt er latent eine Gefahr dar. Denn ohne Existenzan­gst funktionie­rt dieses System nie.

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