Maskenball der Chirotope
Versuch einer Sau-Schlachtung, also: Lob der untergebutterten guten Nachricht.
Tierschutz kann ein Verhängnis sein: Unbehelligt rennt die Sau. Rennt und rennt – durchs Dorf, zu dem wir unruhigen Gewissens »Welt« sagen dürfen. Niemand schlachtet die Sau, sie ist eine heilige Kuh. Gemeint ist die schlechte Nachricht. Sie herrscht. Was in den Brachialwogen der Informationsflut untergeht, ist die positive Meldung. Ein verlorenes, in Zeitungsspalten eingequetschtes Wesen. Hilflos gegen die Crime-Botschaften der Nächstenhiebe und Kabalen, der Kapitalismusschelte und sonstigen Kritikrausches. Als Aleida und Jan Assmann vor Wochen den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielten, beleuchteten sie in ihrer Rede die Elendsverhältnisse allüberall, aber fragten plötzlich: »Können wir zur Abwechslung bitte auch mal hören, wo etwas gelingt?«
Ja, unbedingt! Forscher haben herausgefunden, wie das Gehirn von Tintenfischen funktioniert. Und Lissabon wird Eintrittspreise für Museen »in Größenordnungen« subventionieren. Die legalisierte Zwangsarbeit gab es 1800 in 193 Staaten, 2017 nur noch in drei. Costa Rica will bald jegliche Einwegplaste verbieten. Daran und auch an Sätzen, die man nicht versteht, kann man sich erfreuen: »Wie bei einem Maskenball können Chirotope ihre wahre chirotopale Identität verschleiern und so tun, als seien sie ein nicht-chirotopales Phirotop.« Geheimnisvolle Mathematik!
In Goethes »Faust« tritt die Sorge auf: »Würde mich kein Ohr vernehmen,/ Müsst’ es doch im Herzen dröhnen.« Sorge drückt. Aber: Sie möge nicht erdrücken. Kampf, damit die Welt schön wird? Es lohnt sich zu kämpfen, weil die Welt schön ist. Schöpfung! Die Sorge soll Dienerin der Lust sein, nicht deren Dompteuse. Bei aller ethischen Aufopferung möge nicht verloren gehen, was Karl Jaspers die »energiestiftende Selbstbezogenheit« nannte. Also: Nicht ausgerechnet beim Thunfischessen den Meeresschutz diskutie- ren; wir trinken ja auch Wein, ohne unentwegt die Wassernöte dieser Erde aufzurufen.
In Wolfgang Herrndorfs Roman »Tschick« steht: »Wenn man Nachrichten guckte: Der Mensch ist schlecht. Und vielleicht stimmte das ja auch, und der Mensch war zu 99 Prozent schlecht. Aber das Seltsame war, dass Tschick und ich auf unserer Reise fast ausschließlich dem einen Prozent begegneten, das nicht schlecht war.« Beschrieben ist da eine Erfahrung, die öffentlich vorkommen möchte, so wie alles andere, und nur weil sie schön ist, sollte sie nicht gleich als Schönfärberei verhässlicht werden.
Wasser aus geschützten Quellen tranken 1980 rund 60 Prozent der Erdbevölkerung, 2015 waren es schon 88 Prozent. In Australien entdeckten Forscher den Gecko »Saltuarius eximius« und in kroatischen Höhlen die Schnecke »Zospeum tholussum« – die durchsichtig ist und keine Augen hat. Wir befinden uns leider in einer Pulverfabrik, doch hat Gott uns das Rauchen erlaubt – ja, Verantwortung und Leichtsinn fallen immer zusammen. Auch überm Neoliberalismus geht verlässlich die wärmende Sonne auf; im Mittelmeer wird weiter gebadet; die Zahl der Atomsprengköpfe: 64 000 betrug sie 1986, im Jahr 2017 wurden 15 000 gezählt. In Indien hat man in einer Großaktion in zwölf Stunden über 50 Millionen Bäume gepflanzt.
Gewiss: Jeder aufrichtenden Statistik steht eine niederschmetternde gegenüber, und zu viel Salz kann nicht mit zu viel Zucker ausgeglichen werden. Aber worum es geht, ist der gleichzeitige Blick. Es gibt die kapitale Schande der Gier – doch ebenso existieren weltweit humane Prinzipien wie nie zuvor. Wir leben in einer furchtbaren und zugleich wohl in der besten aller bisherigen Welten. Dies als heitere, trotzige Behauptung – wider jene systemkritische Anthropologie, die sich ständig gewissensplagende Erinnyen an die Seite ruft, als seien es gefügige Haustiere.
Immer nur Tote, Täter, Torturen, taumelnde Verhältnisse? Als zähle nicht, dass sich in Wisconsin (USA) ein Bürgerverein gegen den Privatbesitz von Waffen gründete. In einer Kiesgrube bei Antwerpen entsteht endlich der lang geplante große Solarpark. In Norwegen sind schon die Hälfte aller neu zugelassenen Autos Elektro- und Hybridwagen. Und Südund Nordkorea planen, sich für die Olympischen Spiele 2032 mit einer gemeinsamen Mannschaft zu bewerben.
Natürlich: Andauerndes Positivdenken wäre Plage und Lüge. Ist aber manchmal ein Juwel. Ein britischer Forscher hat einen Pizzateig mit Meeresalgen entwickelt: schmeckt und ist gesund. Ein dreijähriges Kind fällt in Birmingham in einen 15 Meter tiefen, mit Wasser gefüllten Schacht – eine Helferin springt selbstlos hinterher und rettet den Jungen. Ein Kater wird in Zürich vermisst, kommt in Chur an und dort ins Tierheim – und hat jetzt ein neues Zuhause bei einer ortsansässigen Familie. Unwichtig? Für den Kater nicht. Was Herzensgüte vollbringt, kann nie unwichtig sein.
Gute Nachrichten verführen zur Empathie, sie sind eine Art Widerstand, denn sie stören – etwa den ledernen Kampfspötter, der dauerrackernd seine giftige Tonart ausschwitzt. Diesem Typ darf nichts akzeptabel geraten – in einer Welt, die er sich pauschal und prinzipiell zum Feind erkor. Mancher Gesellschaftskritiker würde selbst dann versteinert bleiben, wenn Angela Merkel zur außerparlamentarischen Opposition wechselte.
Die Dauerpräsenz schlechter Nachricht zeitigt bizarr traurige Folgen: Man bekommt Schwierigkeiten ausgerechnet mit jenen, die sich gegen das Miese wenden. Just Leute mit Idealen sehen oft so erschöpft aus. Stehen so seltsam neben sich, wenn sie außer sich geraten. Das Gemüt: immer in Anschlag. Stets nur Ausrufezeichen in den Gesichtszügen. Fortwährend im Belehrungsauftrag. Bloß nicht zugeben, dass man auch aus Weichtei- len besteht. Der Aphoristiker E. M. Cioran sagte beglückend Dialektisches: »Wir sind am Grund einer Hölle, von der aber jeder Augenblick ein Wunder ist.« Also: Diese Welt, die das Gute gar zu gern versteckt und die du kleiner Mensch unglücklicherweise nicht sehr lange bewohnen wirst – lass sie auch mal beseelt in dich eindringen. Man darf doch auch mal erleuchtet schwach werden vor dem eigenen besseren Wissen. Nimm einfach mal ein Blatt vor den ständig anklagenden Mund.
Jahrelang gab es Querelen um den Neubau einer Förderschule für Körperbehinderte in Magdeburg, im Roggengrund – nun geht es auf der Baustelle voran. Und wunderbar: In wenigen Monaten erscheint ein neues Buch des großen Dichters Volker Braun. Wurde 1863 in 193 Ländern die Todesstrafe vollstreckt, waren es 2016 nur noch 89 Staaten. Gute Nachrichten: angenehme Abwechslung. Wo doch ansonsten alles beim Alten bleibt.
Nächster Amok, nächste K-Frage, nächster Krieg, nächster Koalitionsschlamm. Wahre Aufklärung tut not, natürlich, und sie hängt weiterhin davon ab, wie pfeilgenau die Medien zwischen der Scylla des Trivialen und der Charybdis des Abseitigen den Gesang der Sirenen empfangen.
Der heilige Antonius hatte sein Buch – das Wissen. Becketts Krapp hatte sein Tonband – die Erinnerung. Jeder von uns hat sein Terminal – die Information. Die bedeutet oft genug: Ich weiß nichts, ich weiß nur, dass ich informiert bin. Aber worüber? In jenem täglichen Reizbeschuss durch schlechte Kunde, so die Assmanns in ihrer erwähnten Friedenspreisrede, darf nie die Wahrnehmungskraft für das Positive sterben.
Kürzlich gelang dem SV 07 Häselrieth in der Fußballkreisliga Südthüringen ein 7:1Sieg. Herrlich! Was freilich für die unterlegenen Spieler vom 1. FC Köppelsdorf alles andere als eine gute Nachricht war.
»Wenn man Nachrichten guckte: Der Mensch ist schlecht. Und vielleicht stimmte das ja auch, und der Mensch war zu 99 Prozent schlecht. Aber das Seltsame war, dass Tschick und ich auf unserer Reise fast ausschließlich dem einen Prozent begegneten, das nicht schlecht war.«
Aus »Tschick« von Wolfgang Herrndorf