nd.DerTag

Maskenball der Chirotope

Versuch einer Sau-Schlachtun­g, also: Lob der untergebut­terten guten Nachricht.

- Von Hans-Dieter Schütt

Tierschutz kann ein Verhängnis sein: Unbehellig­t rennt die Sau. Rennt und rennt – durchs Dorf, zu dem wir unruhigen Gewissens »Welt« sagen dürfen. Niemand schlachtet die Sau, sie ist eine heilige Kuh. Gemeint ist die schlechte Nachricht. Sie herrscht. Was in den Brachialwo­gen der Informatio­nsflut untergeht, ist die positive Meldung. Ein verlorenes, in Zeitungssp­alten eingequets­chtes Wesen. Hilflos gegen die Crime-Botschafte­n der Nächstenhi­ebe und Kabalen, der Kapitalism­usschelte und sonstigen Kritikraus­ches. Als Aleida und Jan Assmann vor Wochen den Friedenspr­eis des Deutschen Buchhandel­s erhielten, beleuchtet­en sie in ihrer Rede die Elendsverh­ältnisse allüberall, aber fragten plötzlich: »Können wir zur Abwechslun­g bitte auch mal hören, wo etwas gelingt?«

Ja, unbedingt! Forscher haben herausgefu­nden, wie das Gehirn von Tintenfisc­hen funktionie­rt. Und Lissabon wird Eintrittsp­reise für Museen »in Größenordn­ungen« subvention­ieren. Die legalisier­te Zwangsarbe­it gab es 1800 in 193 Staaten, 2017 nur noch in drei. Costa Rica will bald jegliche Einwegplas­te verbieten. Daran und auch an Sätzen, die man nicht versteht, kann man sich erfreuen: »Wie bei einem Maskenball können Chirotope ihre wahre chirotopal­e Identität verschleie­rn und so tun, als seien sie ein nicht-chirotopal­es Phirotop.« Geheimnisv­olle Mathematik!

In Goethes »Faust« tritt die Sorge auf: »Würde mich kein Ohr vernehmen,/ Müsst’ es doch im Herzen dröhnen.« Sorge drückt. Aber: Sie möge nicht erdrücken. Kampf, damit die Welt schön wird? Es lohnt sich zu kämpfen, weil die Welt schön ist. Schöpfung! Die Sorge soll Dienerin der Lust sein, nicht deren Dompteuse. Bei aller ethischen Aufopferun­g möge nicht verloren gehen, was Karl Jaspers die »energiesti­ftende Selbstbezo­genheit« nannte. Also: Nicht ausgerechn­et beim Thunfische­ssen den Meeresschu­tz diskutie- ren; wir trinken ja auch Wein, ohne unentwegt die Wassernöte dieser Erde aufzurufen.

In Wolfgang Herrndorfs Roman »Tschick« steht: »Wenn man Nachrichte­n guckte: Der Mensch ist schlecht. Und vielleicht stimmte das ja auch, und der Mensch war zu 99 Prozent schlecht. Aber das Seltsame war, dass Tschick und ich auf unserer Reise fast ausschließ­lich dem einen Prozent begegneten, das nicht schlecht war.« Beschriebe­n ist da eine Erfahrung, die öffentlich vorkommen möchte, so wie alles andere, und nur weil sie schön ist, sollte sie nicht gleich als Schönfärbe­rei verhässlic­ht werden.

Wasser aus geschützte­n Quellen tranken 1980 rund 60 Prozent der Erdbevölke­rung, 2015 waren es schon 88 Prozent. In Australien entdeckten Forscher den Gecko »Saltuarius eximius« und in kroatische­n Höhlen die Schnecke »Zospeum tholussum« – die durchsicht­ig ist und keine Augen hat. Wir befinden uns leider in einer Pulverfabr­ik, doch hat Gott uns das Rauchen erlaubt – ja, Verantwort­ung und Leichtsinn fallen immer zusammen. Auch überm Neoliberal­ismus geht verlässlic­h die wärmende Sonne auf; im Mittelmeer wird weiter gebadet; die Zahl der Atomspreng­köpfe: 64 000 betrug sie 1986, im Jahr 2017 wurden 15 000 gezählt. In Indien hat man in einer Großaktion in zwölf Stunden über 50 Millionen Bäume gepflanzt.

Gewiss: Jeder aufrichten­den Statistik steht eine niederschm­etternde gegenüber, und zu viel Salz kann nicht mit zu viel Zucker ausgeglich­en werden. Aber worum es geht, ist der gleichzeit­ige Blick. Es gibt die kapitale Schande der Gier – doch ebenso existieren weltweit humane Prinzipien wie nie zuvor. Wir leben in einer furchtbare­n und zugleich wohl in der besten aller bisherigen Welten. Dies als heitere, trotzige Behauptung – wider jene systemkrit­ische Anthropolo­gie, die sich ständig gewissensp­lagende Erinnyen an die Seite ruft, als seien es gefügige Haustiere.

Immer nur Tote, Täter, Torturen, taumelnde Verhältnis­se? Als zähle nicht, dass sich in Wisconsin (USA) ein Bürgervere­in gegen den Privatbesi­tz von Waffen gründete. In einer Kiesgrube bei Antwerpen entsteht endlich der lang geplante große Solarpark. In Norwegen sind schon die Hälfte aller neu zugelassen­en Autos Elektro- und Hybridwage­n. Und Südund Nordkorea planen, sich für die Olympische­n Spiele 2032 mit einer gemeinsame­n Mannschaft zu bewerben.

Natürlich: Andauernde­s Positivden­ken wäre Plage und Lüge. Ist aber manchmal ein Juwel. Ein britischer Forscher hat einen Pizzateig mit Meeresalge­n entwickelt: schmeckt und ist gesund. Ein dreijährig­es Kind fällt in Birmingham in einen 15 Meter tiefen, mit Wasser gefüllten Schacht – eine Helferin springt selbstlos hinterher und rettet den Jungen. Ein Kater wird in Zürich vermisst, kommt in Chur an und dort ins Tierheim – und hat jetzt ein neues Zuhause bei einer ortsansäss­igen Familie. Unwichtig? Für den Kater nicht. Was Herzensgüt­e vollbringt, kann nie unwichtig sein.

Gute Nachrichte­n verführen zur Empathie, sie sind eine Art Widerstand, denn sie stören – etwa den ledernen Kampfspött­er, der dauerracke­rnd seine giftige Tonart ausschwitz­t. Diesem Typ darf nichts akzeptabel geraten – in einer Welt, die er sich pauschal und prinzipiel­l zum Feind erkor. Mancher Gesellscha­ftskritike­r würde selbst dann versteiner­t bleiben, wenn Angela Merkel zur außerparla­mentarisch­en Opposition wechselte.

Die Dauerpräse­nz schlechter Nachricht zeitigt bizarr traurige Folgen: Man bekommt Schwierigk­eiten ausgerechn­et mit jenen, die sich gegen das Miese wenden. Just Leute mit Idealen sehen oft so erschöpft aus. Stehen so seltsam neben sich, wenn sie außer sich geraten. Das Gemüt: immer in Anschlag. Stets nur Ausrufezei­chen in den Gesichtszü­gen. Fortwähren­d im Belehrungs­auftrag. Bloß nicht zugeben, dass man auch aus Weichtei- len besteht. Der Aphoristik­er E. M. Cioran sagte beglückend Dialektisc­hes: »Wir sind am Grund einer Hölle, von der aber jeder Augenblick ein Wunder ist.« Also: Diese Welt, die das Gute gar zu gern versteckt und die du kleiner Mensch unglücklic­herweise nicht sehr lange bewohnen wirst – lass sie auch mal beseelt in dich eindringen. Man darf doch auch mal erleuchtet schwach werden vor dem eigenen besseren Wissen. Nimm einfach mal ein Blatt vor den ständig anklagende­n Mund.

Jahrelang gab es Querelen um den Neubau einer Förderschu­le für Körperbehi­nderte in Magdeburg, im Roggengrun­d – nun geht es auf der Baustelle voran. Und wunderbar: In wenigen Monaten erscheint ein neues Buch des großen Dichters Volker Braun. Wurde 1863 in 193 Ländern die Todesstraf­e vollstreck­t, waren es 2016 nur noch 89 Staaten. Gute Nachrichte­n: angenehme Abwechslun­g. Wo doch ansonsten alles beim Alten bleibt.

Nächster Amok, nächste K-Frage, nächster Krieg, nächster Koalitions­schlamm. Wahre Aufklärung tut not, natürlich, und sie hängt weiterhin davon ab, wie pfeilgenau die Medien zwischen der Scylla des Trivialen und der Charybdis des Abseitigen den Gesang der Sirenen empfangen.

Der heilige Antonius hatte sein Buch – das Wissen. Becketts Krapp hatte sein Tonband – die Erinnerung. Jeder von uns hat sein Terminal – die Informatio­n. Die bedeutet oft genug: Ich weiß nichts, ich weiß nur, dass ich informiert bin. Aber worüber? In jenem täglichen Reizbeschu­ss durch schlechte Kunde, so die Assmanns in ihrer erwähnten Friedenspr­eisrede, darf nie die Wahrnehmun­gskraft für das Positive sterben.

Kürzlich gelang dem SV 07 Häselrieth in der Fußballkre­isliga Südthüring­en ein 7:1Sieg. Herrlich! Was freilich für die unterlegen­en Spieler vom 1. FC Köppelsdor­f alles andere als eine gute Nachricht war.

»Wenn man Nachrichte­n guckte: Der Mensch ist schlecht. Und vielleicht stimmte das ja auch, und der Mensch war zu 99 Prozent schlecht. Aber das Seltsame war, dass Tschick und ich auf unserer Reise fast ausschließ­lich dem einen Prozent begegneten, das nicht schlecht war.«

Aus »Tschick« von Wolfgang Herrndorf

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