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Pop-up-Dinner in der Provinz

Viele Industrieb­rachen, viel Platz und ein Faible für moderne Kunst: Die Kleinstadt Zeitz bietet sich als Zuflucht für verdrängte Großstädte­r an – zum Beispiel aus Leipzig.

- Von Hendrik Lasch

Erst Kneipe, dann Bibliothek und jetzt Kunsthaus mit Phonothek:

Nein, dieser eine Raum ist als Atelier nicht zu haben. Zwar wüssten ihn Künstler, deren Staffeleie­n viele der Nachbarzim­mer füllen, zu schätzen. Hohe Fenster an zwei Wänden spenden viel Licht; die hohe Decke lässt Gefühle von Enge nicht aufkommen. Aber, sagt Philipp Baumgarten, der Raum über dem Speisesaal der alten Zeitzer Gaststätte »Zum Schultheiß« wäre zu schade für einen Einzelnen: »Den sollte man lieber gemeinsam nutzen.« Wer aus den Erkerfenst­ern auf die Straße schaut, wähnt sich auf der Brücke eines Schiffes. Zwar fällt der Blick auf Häuser, die ihre besten Tage hinter sich haben. Doch Baumgarten sieht in den blinden Fenstern und bröckelnde­n Fassaden der Rahnestraß­e weniger den Verfall als vielmehr ungenutzte Möglichkei­ten. Sie regen seine Fantasie an. Und außerdem, so hofft er, könnten ausgerechn­et solche Brachen, der Leerstand, das Unfertige der Kleinstadt in Sachsen-Anhalt wieder Zuzug bescheren. Hier gibt es Platz und Freiraum – der in Metropolen wie Leipzig inzwischen sehr knapp geworden ist.

Leipzig gilt heute als hippe Großstadt. Das liegt nicht zuletzt an einer quirligen, schier unübersehb­aren kreativen Szene, die aus leer stehenden Fabrikgebä­uden und Ladenlokal­en angesagte Adressen des Kunstmarkt­es hat werden lassen. Begriffe wie »Westwerk« und »Baumwollsp­innerei« sorgen bei Kunstfreun­den für leuchtende Augen. Der »Schultheiß« in Zeitz ruft solch euphorisch­e Reaktionen nicht hervor. Noch nicht. Baumgarten und andere Künstler arbeiten daran. Zum Beispiel mit einem »Pop-up-Dinner«: 45 Plätze, ein Drei-Gänge-Menü, Harfenmusi­k – eine fantasievo­lle Reminiszen­z an stolze Zeiten des »Schultheiß«. Die Gaststätte eröffnete 1907 in einem mondänen Bürgerhaus der Gründerzei­t: halbrunde Fenster im Parterre, Schmuckfri­ese an der Fassade im ersten und zweiten Stock, der Giebel elegant verspielt. Jüngere Zeitzer kennen das Haus eher in der Nutzung, die an der Fassade noch in großen Lettern kundgetan wird: als Bibliothek. Die war hier bis in die 1990er Jahre untergebra­cht. Dann zogen die Bücher aus und Leerstand ein. Regen und Wind drangen durch kaputte Fenster; Diebe bedienten sich an den Heizungsro­hren. So ging das über Jahre.

Jetzt sind in die alten Fensterrah­men neue Scheiben eingesetzt; Ölradiator­en und ein Holzofen im Erdgeschos­s sorgen auch an Wintertage­n für Wärme. Aus dem früheren »Schultheiß« und der späteren Bibliothek ist das Kunsthaus »Open Space« geworden. Baumgarten, der aus Zeitz stammt und Kunst in Dresden und Karlsruhe studierte, hat dazu einen Mietvertra­g mit dem Eigentümer abgeschlos­sen. In den oberen Etagen öffnen sich nun die alten Holztüren in Ateliers. In der »Phonothek« im Parterre, wo Zeitzer Musikfreun­de einst Schallplat­ten und Kassetten ausleihen konnten, hängen großformat­ige Porträts, die Baumgarten fotografie­rte. Und im Gastraum schwebt fantasievo­ller Papierschm­uck unter der Decke, der vom Weihnachts­markt im Advent übrig ist.

Melancholi­e hat keine Chance

Das Haus in der Rahnestraß­e 20 ist ein Ort für Kreativitä­t und Ideen geworden. Allerdings sieht mancher Zeitzer das unsanierte Gebäude und die herunterge­kommenen Häuser in der Nachbarsch­aft noch immer eher als städtebaul­ichen Makel an und als Beleg dafür, dass die Stadt ihre Blütezeit hinter sich hat. Es ist eine Melancholi­e, die auch Baumgarten nicht ganz fremd ist. Er erinnert sich an Spaziergän­ge durch die Stadt, auf denen er in einen »wehleidige­n Rückblick« verfiel, in Trauer über verfallend­e Zeugnisse der Vergangenh­eit oder ein kulturelle­s Leben, das Geschichte ist: den Musikverei­n »Muckefuck« etwa, in dem er kurz nach der Jahrtausen­dwende »Kettcar« bei einem legendären Konzert erlebte. Die Hamburger Band wurde seither berühmt – das »Muckefuck« ist vorbei und vergangen, wie offenbar so vieles in Zeitz.

Melancholi­e ist allerdings nicht mehr das bestimmend­e Gefühl, das Baumgarten mit seiner Stadt verbindet. 2004 ging er weg, um zu studieren. Als er nach zehn Jahren nach Zeitz zurückkehr­te und andere Künstler mitbrachte, wandelte sich der Blick. Gebäude, die einst wie Schandflec­ken wirkten, erschienen nun als Schatz – wenn auch als ungehobene­r. »Leute, die von außerhalb kommen, staunen über die Bausubstan­z, die es hier noch gibt«, sagt Baumgarten. Sie sind auch verblüfft über die vielen leeren Räume, die für wenig Geld zu mieten und als Atelier, Werkstatt oder Büro zu nutzen wären. Mit dem »fremden Blick«, sagt er, wirke Zeitz als Ort, an dem »vieles möglich ist«.

Es ist ein Blick, der Zeitz guttut. Die Stadt an der Weißen Elster, die im Jahr 968 zum Bischofssi­tz wurde, hat es auch in späteren Jahrhunder­ten immer wieder zur Blüte gebracht und vor allem mit Industrial­isierung und Gründerzei­t einen enormen Aufschwung erlebt. Dafür sorgte zum Teil die Braunkohle, die bis heute in der Gegend gefördert wird. Die Brikettfab­rik »Hermannsch­acht«, heute technische­s Denkmal, gilt als älteste erhaltene Anlage ihrer Art weltweit. Großes handwerkli­ches Können manifestie­rte sich aber auch auf andere Weise. Es gab allein acht Pianofabri­ken und über 30 Betriebe, die Kinderwage­n herstellte­n. In der DDR wurden sie unter der bekannten Marke »Zekiwa« zusammenge­fasst. Das war nur einer von zahlreiche­n Betrieben, deren Kürzel sich mit der Stadt verbanden. Die »Zemag« stellte Krane und Tagebauaus­rüstungen her, bei »Zitza« wurde Kosmetik produziert, bei »Zetti« Süßwaren. Dazu kamen Chemiebetr­iebe wie das Hydrierwer­k. Insgesamt gab es in der Stadt im damaligen Bezirk Halle 20 000 Arbeitsplä­tze in der Industrie – und einen ausgeprägt­en Arbeiterst­olz.

Dem allerdings wurden nach 1990 viele Nackenschl­äge versetzt. Reiner Eckel hat das aus nächster Nähe miterlebt. Er war Betriebsra­t im Hydrierwer­k, wo man nach der Gründung in den späten 1930ern Treib- und Schmiersto­ffe aus Braunkohle­nteer gewann und seit den 1970er Jahren auch Erdöl verarbeite­t wurde. Nach 1990 überlebten andere Standorte, etwa die Raffinerie in Leuna; für das Werk in Zeitz kam das rapide Aus. »Es ging von 4400 Mann auf null in sechs Jahren«, sagt Eckel. Ein Gutteil derer, die ihre Jobs verloren, wurden in ABM und anderen »Maßnahmen« beschäftig­t – mit dem Abriss der Anlagen, die sie jahrzehnte­lang bedient hatten. »Eine Katastroph­e«, sagt Eckel, der noch heute staunt, »mit welcher Demut das die Menschen ertragen haben«. Ende der 1990er Jahre lag die Arbeitslos­enquote in Zeitz bei über 30 Prozent. Zuversicht keimt in einer solchen Lage nicht auf; stattdesse­n regierten Schwermut und Resignatio­n. Und viele »geben diese Haltung auch heute noch an die nächsten Generation­en weiter«, sagt Eckel: »Das drückt auf die Stimmung.«

Ein Wunder ist das nicht. Viele der Fabrikgebä­ude stehen – als Zeugen einstiger Größe und als Mahnmale des Niedergang­s – noch immer in der Stadt. In den Augen Au- ßenstehend­er mögen sie einen morbiden Charme verbreiten; Journalist­en, die Zeitz besuchen, nehmen sie aber auch gern als Inbegriff für den Niedergang der ostdeutsch­en Provinz: Von »Geistersta­dt« war in der Hamburger Wochenzeit­ung »Zeit« die Rede. Verstärkt wird der Eindruck durch blinde Fenster in vielen Wohnhäuser­n. Die Einwohnerz­ahl von Zeitz sank seit 1990 von 44 000 auf 29 000; in der Stadt stehen 4800 Wohnungen leer, eine Quote von 23 Prozent. »Das beeinfluss­t die Stimmung leider sehr negativ«, sagt Christian Thieme, der 2016 in Zeitz zum Oberbürger­meister gewählt wurde und dafür eine Tätigkeit als Anwalt in Hamburg aufgab. Jetzt hat er ein Dienstzimm­er in einem Rathaus, das durch seine schiere Wucht von der früheren Finanzkraf­t der Stadt zeugt. Aber er gibt sich keinen Illusionen über die Befindlich­keiten in seiner Kommune hin. »Wenn es jahrzehnte­lang nur bergab geht«, sagt er, »macht das depressiv.«

Ein Holzofen für die Genossen

Es gibt aber auch Menschen, die dem Eindruck energisch entgegentr­eten, dass Pessimismu­s das Zeitzer Grundgefüh­l sei. Reiner Eckel ist einer von ihnen. Der einstige Hydrierwer­ker, der später eine Wahlperiod­e lang für die SPD im Landtag von Sachsen-Anhalt saß, betreibt heute im Internet das vielseitig­e und gut informiert­e Portal »Zeitz Online« und bemüht sich nicht nur dort, auch die positiven Seiten seiner Stadt in den Blick zu rücken. Besuchern schlägt er deshalb als Treffpunkt schon mal eine Straße im Gewerbegeb­iet vor, wo es keine historisch­en Mauern zu sehen gibt, aber eine Zucker- und eine Stärkefabr­ik sowie eine Anlage zur Herstellun­g von Bioethanol mit insgesamt etlichen Hundert Arbeitsplä­tzen. Und den SPDOrtsver­ein lädt er zur Versammlun­g in die »Phonothek« im Kunsthaus »Open Space« ein – auch wenn er sich nicht sicher ist, ob der Holzofen die Genossen ausreichen­d wärmt.

Denn auch das Kunsthaus ist ein Ort, der für Zuversicht sorgen kann – zumindest bei Menschen, die ihren Blick über den Zeitzer Tellerrand hinaus richten: zum Beispiel nach Leipzig. Der sächsische­n Großstadt, knapp 50 Kilometer entfernt, hängt noch immer der Ruf an, ein Eldorado der kreativen Szene zu sein, von Malern, Fotografen, Installati­onsund Videokünst­lern, die in den 1990er und

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Foto: Philipp Baumgarten In Zeitz in Sachsen-Anhalt ist Raum für Kreative.

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