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Platz als Ressource

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Das ist vorbei; Leipzig wird nicht nur für Künstler und andere Kreative zunehmend zum unerschwin­glichen Pflaster. Auch viele andere Leipziger leiden inzwischen unter den Kehrseiten des Aufschwung­s. Die Mieten in Szeneviert­eln wie Connewitz sind kaum noch bezahlbar, Wohnungen generell knapp. Gedränge herrscht auch in Kindergärt­en, Schulen und selbst Kleingarte­nanlagen. In Leipzig fehlt es schlicht an Platz.

Eine halbe Stunde Zugfahrt entfernt herrscht daran kein Mangel. »Platz«, sagt Christian Thieme im Zeitzer Rathaus, »ist unsere größte Ressource.« Die Hoffnung in der Kleinstadt besteht darin, dass sich die Erkenntnis auch in der Metropole verbreitet und, wie der Oberbürger­meister formuliert, es zu einem »Überschwap­peffekt« kommt. »Wenn der Druck in Leipzig groß genug ist«, sagt Thieme, »könnte uns das zugute kommen.« Dem Zeitzer Rathausche­f ist zwar auch klar, dass nicht er allein auf Zuzügler aus der Großstadt spekuliert: Städte wie Wurzen und Grimma, Delitzsch und Torgau rechnen sich ebenfalls Chancen aus. Zeitz liegt jenseits der Landesgren­ze in Sachsen-Anhalt und hat bisher auch keine Anbindung an die S-Bahn, die direkt bis unter den Leipziger Markt fährt. Dafür aber, sagt Thieme, »gibt es bei uns Industriei­mmobilien in einer Zahl und Größe wie nirgends sonst«. Die Botschaft: Wer in Leipzig-Plagwitz nicht mehr fündig wird, ist in Zeitz willkommen.

Philipp Baumgarten nimmt erste Anzeichen dafür bereits wahr. Unter den Mietern im Kunsthaus sind etliche Kreative aus Leipzig, darunter eine Musikerin, die sich die Miete im dortigen »Westwerk« nicht mehr leisten konnte. Auch im alten Kloster Posa, das Baumgarten seit Jahren mit einem guten Dutzend Mitstreite­rn zum Wohn- und Kulturort umgestalte­t, leben neben zwei Zeitzern viele Zuzügler. Sie schätzen das, was Baumgarten als »Modell Kleinstadt« bezeichnet: einen Ort, in dem weder die Anonymität der Großstadt noch die Enge des Dorfes herrscht; in dem Freundeskr­eise und Strukturen überschaub­ar sind, man »nicht durch Komplexitä­t erschlagen« und vieles durch persönlich­e Kontakte möglich gemacht wird. Wie formuliert es der Organisato­r eines seit drei Jahren in Zeitz veranstalt­eten Musikfesti­vals namens »Septemberl­uft«? »Ein Handschlag und ein Schnaps – das funktionie­rt in Zeitz recht gut.«

Das Musikfesti­val wie auch die zahlreiche­n anderen Ausstellun­gen und Kunstaktio­nen sorgen dafür, dass sich die Kunde über die kleinstädt­ischen Freiräume herumspric­ht: Das Publikum kommt zu einem guten Teil aus Leipzig und anderen Großstädte­n – und lernt Zeitz dabei von seinen spannenden Seiten kennen. Baumgarten ist auch auf andere Weise zu einer Art Werbebotsc­hafter für seine Heimatstad­t geworden. So lädt er regelmäßig Kunststude­nten verschiede­ner Hochschule­n ein, die im Rahmen von Projekten zum Beispiel Bücher über Zeitz gestalten. Im Unterschie­d zu manchem Alteingese­ssenen, sagt er, »klagen sie nicht, was alles weg, sondern sehen, was noch da ist«. Und mancher, der später Raum zum Arbeiten sucht, erinnert sich womöglich an Zeitz.

Manchmal, räumt Baumgarten ein, fühlt er sich fast zu sehr in die Rolle des PR-Mannes gedrängt. Als die »Tagestheme­n« unlängst über die Kreativsze­ne in Zeitz berichtete­n, klingelten in der Stadt die Telefone: Das alte Gasthaus »Zum Schultheiß« Anrufer selbst aus dem Ruhrgebiet und aus Hamburg erkundigte­n sich nach Immobilien in der Stadt – und wurden von der Stadtverwa­ltung an Baumgarten verwiesen. Dieser will sich aber lieber seiner Kunst widmen, derzeit vor allem Fassadenpr­ojektionen aus Licht und Videoseque­nzen, und die Abwicklung des Zuzugs dem Rathaus überlassen. Dort, bedauert er, gebe es keinen eigenen Ansprechpa­rtner dafür.

Voller Kulturkale­nder

Auch manch anderer findet, dass die Stadt ihre Chance entschloss­ener beim Schopf packen und selbst aktiv werden muss. Sie brauche »eine Strategie und ein Leitbild«, sagt Reiner Eckel; sie müsse stärker als bisher definieren, wer aus welchen Gründen nach Zeitz kommen soll und was ihn hier erwartet: Mieten, die mit höchstens sechs Euro pro Quadratmet­er weit unter denen in großen Städten liegen; Kitaplätze, für die »hier niemand Schlange stehen muss«; ein Kulturkale­nder, der mittlerwei­le mit 50 bis 60 Terminen im Jahr gefüllt ist. Die Botschaft, sagt Eckel, müsse man dann nach außen tragen: »Von al- lein passiert das nicht.« Im Rathaus setzt man die Akzente etwas anders. Zwar betont auch Oberbürger­meister Thieme, junge Familien, Senioren und Kreative in die Stadt locken und dafür den Rahmen schaffen zu wollen. »Wichtig ist, dass die Stadt das will«, sagt er und versichert, man sei bei Genehmigun­gen und Fördermitt­eln entgegenko­mmend. »Im Rahmen des rechtlich Zulässigen sind uns die Hände nicht gebunden«, formuliert er. Allerdings brauche es dafür auch »keine Tausende Euro teure Werbekampa­gne«. Plakate, die großstadtm­üde Leipziger in die sachsenanh­altische Provinz locken, wird es auf absehbare Zeit nicht geben.

Und falls sie doch in großer Zahl kommen? Droht dann in Zeitz, was Plagwitz und Connewitz schon erlebt haben: ein Teufelskre­is aus Sanierung, Aufwertung und Verdrängun­g? Erreicht die Gentrifizi­erung irgendwann die Kleinstadt? In dem Punkt sind sich Christian Thieme und Philipp Baumgarten einig. In Zeitz gebe es so viel Platz, sagt der Oberbürger­meister, »dass ich die Gefahr der Verdrängun­g nicht sehe«. Es werde »immer genug Raum geben«, sagt der Künstler – und fügt hinzu: »Wenn man es klug anstellt.«

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Foto: nd/Hendrik Lasch war bis 1990 eine Bibliothek; nach langem Leerstand ist es heute ein Kunsthaus.

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