Mario Pschera
Menschen neigen dazu, Personen des öffentlichen Lebens, zudem wenn sie vor ihrer Zeit gestorben sind, zu Ikonen zu erklären, ihnen Denkmäler zu errichten. Es scheint – selbst bei Atheisten – ein Relikt religiösen Denkens zu sein, den oder die Verstorbene in ein transzendentes Idol zu verwandeln, sie zu Übermenschen zu machen. Elvis Presley oder Josef Wissarionowitsch hatte das schon zu Lebzeiten gefallen, sie ließen sich verehren und anbeten als »King of Rock ’n’ Roll« oder »Führer des Weltproletariats«, vor deren Aura die Leistungen anderer verblassen. Die im Januar 1919 von besorgten Bürgern in Uniform – es galt ja, Ruhe und Ordnung wiederherzustellen – ermordete Rosa Luxemburg freilich konnte mit dieser Art magischen Denkens nichts anfangen. Wie sie schon Marx nicht als unfehlbaren Säulenheiligen betrachtete und das Wort sozialdemokratischer Parteiführer nicht als sakrosankt hinnahm, hätte sie sich ihrer Verwandlung in eine Ikone sicher heftig widersetzt. »Dieser herrschende Marxismus fürchtet leider jeden Gedankenluftzug wie ein alter Gichtonkel, und ich rechne damit, erst viel streiten zu müssen«, so Rosa Luxemburg 1913 über die ablehnende Haltung der SPDFührung zu ihrem Buch »Die Akkumulation des Kapitals«, das heute zu den wichtigsten Beiträgen zur marxistischen Wirtschaftstheorie seit dem »Kapital« gezählt wird. Verhindern konnte sie es nicht, dass man zwar ihr Konterfei gern für Banner nutzte und ihre Sentenz von »der Freiheit der Andersdenkenden« semantisch verbog. Dennoch ist seit etlichen Jahren eine erstaunliche und erfreuliche Wiederbeschäftigung mit ihrem Leben und Werk zu vermerken, die weniger vom orthodoxen Wunsch nach Überlieferungsketten und Autoritätsbeweisen getragen wird, als vielmehr davon, den Menschen Rosa Luxemburg aus ihren Schriften und zeitgenössischen Quellen heraus sichtbar werden zu lassen und ihre Denkanstöße aufzunehmen in die Debatte um einen neuen Sozialismus. Das mag sich utopisch anhören angesichts des Erstarkens restaurativer autoritärer Kräfte und einer hasenfüßigen Mitte, von der Basta-Weiter-so-Sozialdemokratie ganz zu schweigen. Aber in jeder Krise steckt eine Chance, und auch in puncto Optimismus lässt sich einiges von Rosa Luxemburg abschauen.