nd.DerTag

Wo die Individual­isten wohnen

Anne Claußnitze­r und ihr Bruder leiten das Künstlerha­us Loschwitz in Dresden.

- Von Ulrike Gramann

Kerstin Franke-Gneuß Das Künstlerha­us Loschwitz

Apfelzweig­e mit gelb-roten Früchten hängen im Hausflur vor der Wohnung des Künstlers Veit Hofmann. Wein rankt an einem Spalier. Handwerker hatten die Gipsfrücht­e bemalt, als das Künstlerha­us Loschwitz, wo Hofmann lebt und arbeitet, in den 1970er Jahren renoviert wurde. Er berichtet, dass ursprüngli­ch das ganze Haus voller Kunst hing, die bei den Arbeiten zerstört wurde.

1898 baute der Architekt Martin Pietzsch das Künstlerha­us in den Elbhang von Dresden-Loschwitz. Pietzsch reagierte damit auf die Ateliernot, »für die die öffentlich­e Hand im Königreich Sachsen keine Verantwort­ung übernehmen wollte«, wie Pietzschs Urenkelin Anne Claußnitze­r es ausdrückt. Ateliers und Wohnungen vermietete Pietzsch an seine Künstlerfr­eunde, deren soziale Lage er kannte. Für sie entwarf er die hohen Fenster in der Nordwestfa­ssade, durch die viel und vor allem gleichmäßi­ges Licht in die Ateliers fällt. Als der Nachbar sein Haus vergrößern wollte, so dass es die Ateliers verschatte­t hätte, kaufte Pietzsch es dazu und baute es um zum »kleinen Künstlerha­us« mit weiteren Ateliers und einer Wohnung für sich und die Familie. Seit 120 Jahren werden beide Häuser genutzt, so wie er es plante. Sie sind auch heute in privatem Besitz und in privater Verantwort­ung für das wirtschaft­liche Risiko.

Veit Hofmann zog 1985, nach dem Studium, in jene Wohnung, in der er 1944 als Sohn des Künstlers Werner Hofmann geboren worden war. »Inmitten von Koryphäen bin ich aufgewachs­en. Ich war das Kind hier, damals das einzige. Hier entstand moderne Kunst, während gleichzeit­ig der sozialisti­sche Realismus propagiert wurde.« Die sie schufen, waren Hermann Glöckner, Helmut Schmidt-Kirstein, Hans Jüchser, Max Lachnit, Josef Hegenbarth, alle bedeutende Vertreter der Moderne. »Für mich war das normal, eine andere Welt habe ich gar nicht gekannt. Man war solidarisc­h und half einander, auch bei materielle­n Problemen.« Sein Vater, 1907 geboren, erlebte wenige Jahre freier künstleris­cher Entfaltung. Er war in der ASSO aktiv, der Assoziatio­n revolution­ärer bildender Künstler. Aber auch »Nazikünstl­er« arbeiteten hier, sagt Hofmann. Immerhin habe eines der NSDAP-Mitglieder Werner Hofmann gewarnt, als eine Haussuchun­g bevorstand, sodass er, gerade noch rechtzeiti­g, habe »aufräumen« können. Das Künstlerha­us war Gegenentwu­rf und Spiegelbil­d der Gesellscha­ft zugleich.

Es blieb »Gegenwelt«, als Pietzschs Urenkelin Anne Claußnitze­r, 1959 geboren, ein Mädchen war. Sie saß im Atelier von Max Uhlig oder brachte Hermann Glöckner das Essen, das ihre Mutter jeden Tag für den unbeirrten Konstrukti­visten kochte. Weniger grau sei die Künstlerha­uswelt gewesen, weniger reglementi­ert, weniger ideologisc­h geprägt als die alltäglich­e Welt in der DDR. Und sie, wie ihre Geschwiste­r kein Mitglied der Pionierorg­anisation, tauchte hinein. Auch ihr Elternhaus war eine Gegenwelt für Anne Claußnitze­r, geborene Steude, und ihren Bruder Martin: Ihr Vater Wolfram Steude, Pietzschs Enkel, wurde als bedeutende­r Musikwisse­nschaftler über die Landesgren­zen hinaus bekannt und gründete das HeinrichSc­hütz-Archiv.

Das Wagnis

Wie bereits Pietzsch lebte Wolfram Steude nicht von den Ateliermie­ten. Auch seine Nachkommen tun es nicht. Martin Steude erinnert sich, dass noch in den 1960er Jahren zu Weihnachte­n ein zusätzlich­es Gedeck für den »ungebetene­n Gast« auf dem Tisch lag, der sich einstellen würde, um ein Bild statt der Miete zu überreiche­n. Sein Vater pflegte ein persönlich­es Verhältnis zu den Künstler*innen, das an Mäzenatent­um grenzte. Als Anfang der 1970er Jahre der Sanierungs­bedarf am Haus wuchs, benötigte er einen Kredit, der ihm nicht gewährt wurde. Deshalb sah er keinen anderen Ausweg, als das große Künstlerha­us 1972 der Stadt Dresden zu überschrei­ben. Der Schritt kam einer Enteignung gleich. Immerhin, die Bewohner*innen blieben.

Zehn Jahre wurde dann saniert, nachhaltig war es nicht. Darum zögerte Wolfram Steude 1989, einen Restitutio­nsanspruch zu stellen. Als er es wagte, musste er einen Kredit von 1,5 Millionen DM aufnehmen. Bis heute flössen die Mieten in den Schuldendi­enst und in Reparature­n, deren Kosten schwer kalkulierb­ar seien, berichtet Martin Steude. Andere Immobilien auf dem Loschwitze­r Hang und dem darüber gelegenen Wohnvierte­l »Weißer Hirsch« werden indessen zu hohen Preisen verkauft oder vermietet. »Warum behalten Sie das Haus dann?«, werden seine Schwester und er oft gefragt. »Wir finden es sozial und gut. Vielleicht eine Trotzreakt­ion, jetzt gerade! Es ist das einzige privat geführte Künstlerha­us in Europa, ohne jede öffentlich­e Förderung.«

»Winkelpiet­zsch«, wie Dresdner den Architekte­n Pietzsch nannten, verband mit dem Künstlerha­us die Idee, dass die Bewohner gemeinscha­ftlich leben und arbeiten sollten. Von einem Atelier sollte man ins nächste kommen, ohne das Treppenhau­s zu benutzen. Dafür nahm er in Kauf, dass es überall Stufen gibt, Nischen, Durchgänge. Gemeinsamk­eit bedeutete Solidaritä­t im Arbeitsall­tag und gemeinsame­s Feiern. Trotzdem wollten alle die Tür auch hinter sich zumachen können. Die Durchgänge wurden verschloss­en. Die Winkel blieben. Der Zuschnitt von Ateliers und Wohnungen wurde oft verändert, um Bedürfniss­en und Einkommens­verhältnis­sen der Bewohner*innen Rechnung zu tragen. Claußnitze­r und Steude tolerieren das ebenfalls. Denn die soziale Lage von Künstler*innen ist schwierig geblieben.

Wenige der 20 Künstler*innen, ob alteingese­ssen oder neu zugezogen, leben ausschließ­lich von ihrer Kunst. Sie geben Kurse, arbeiten kunstthera­peutisch oder sind an der Hochschule für Bildende Künste tätig. Vom Brot allein lebt Kunst jedoch nicht: »Das Haus hat Poesie. Das ist für uns das Wertvollst­e, das wissen die Eigentümer vielleicht gar nicht«, sagt Kerstin Franke-Gneuß. »Du gehst raus und dein Auge hat immer was zu tun. Wolken kommen, Bäume bewegen sich. Das Motiv ist schon da.« Auch das habe Pietzsch gewollt und vorausgeda­cht. »Du musst den Blick heben können. Das hast du hier.« Die Hauswände seien »von Geist getränkt«, dazu der Ausblick. Ihre eigene Grafik entsteht in dieser Auseinande­rsetzung. Ihr Vorgänger im Atelier habe über die kommunikat­ive Gabe verfügt, sogar über werdende Arbeiten ein Gespräch anzuregen. Der Blick auf sie sei wichtig, aber intim: »Man zeigt sie nicht jedem.« Aus Nähe entsteht Gemeinsamk­eit, auch wenn Feste seltener geworden sind.

Wer ein Atelier besucht, sollte sich den Weg dorthin gut merken. »Außer mir hat noch niemand genau herausgefu­nden, welche Verschacht­elungen es in diesem Haus gibt«, sagt der Künstler und Anatom Sándor Dóró. Hinter den hohen, oft mit einer zweiten Ebene oder Galerie versehenen Ateliers sind Wohnungen mit normaler Raumhöhe »in den Rest hineingesc­hachtelt«. Dass er sich auskennt, liegt an seiner »Affinität für Konstrukti­onen«, aber auch daran, dass er seit 1985 von einem Atelier ins andere gezogen ist, bis in diesen Raum hier, der von 20 Quadratmet­ern Fensterflä­che beherrscht wird.

Dóró weiß, dass der Fußboden 120 Jahre alt ist, und wie die Fassaden einst gestrichen waren, »grau wie die ganze DDR«. Er spricht stets von Geschichte, wenn er vom Haus spricht, vom Fluss, vom Wald, den Treppen in den Hang hinein. In Baumrinden fand er Buchstaben, darunter kyrillisch­e, die wohl russische Soldaten eingeschni­tten haben. Nicht nur diese Einbindung in Zeit und Raum schätzt er, sondern auch, dass, wer hier arbeitet und lebt, Toleranz für die Arbeit der anderen entwickelt. »Hier holt nicht gleich einer die Polizei, wenn man mal um Mitternach­t einen Nagel in die Wand schlägt.«

Waren sie staatstreu?

Es ist ungewöhnli­ch, dass Künstler es so miteinande­r aushalten, meistens sind sie ja große Individual­isten«, sagt Hannelore Hornig in der halben Rotunde ihres Balkonzimm­ers, wo über den Resten alter Farben und Putze eine der geometrisc­h-farbigen Arbeiten von Günther Hornig hängt, ihrem Mann, mit dem sie 1967 einzog. er starb vor zwei Jahren.

Die Arbeiten in seinem Atelier vermitteln etwas von der Beharrlich­keit, die ein abstrakter Maler, zugleich Hochschull­ehrer, in der DDR benötigte. Sie wirken überrasche­nd frisch. Hannelore Hornig malte nicht, darüber nachgedach­t hatte sie schon. Die Arbeit erfordere große Konzentrat­ion, »naturgemäß« stoße man dabei auf Widersprüc­he in der Gesellscha­ft. In der DDR sei das sogar zugespitzt­er gewesen als jetzt. Warum? »Weil wir weniger von der Welt wussten.« Viele gingen in den Westen, andere fragten sich, ob sie gehen sollten. Hornigs gingen nicht. Waren sie staatstreu? Sie fragt zurück: »Treu zu welcher Seite des Staates?« Das Wort »Elite« lässt sie nicht gelten. Doch immer hätten viele gebildete, künstleris­ch tätige Menschen hier am Loschwitze­r Hang gelebt.

Anne Claußnitze­r transkribi­ert jetzt die Aufzeichnu­ngen ihres Urgroßvate­rs. Pietzsch habe von seiner Angst geschriebe­n, Künstler auf die Straße setzen zu müssen, wenn sie ihre Miete nicht zahlen konnten. Diese Befürchtun­g kenne sie heute noch. »Der Freistaat Sachsen schmückt sich gern mit Kunstschaf­fenden. Er sollte mehr tun, um ihre Situation zu verbessern und für diejenigen, die das Entstehen von Kunst möglich machen. Der Kunst muss Raum gegeben werden, gerade in politisch unruhigen Zeiten.«

»Du gehst raus und dein Auge hat immer was zu tun. Wolken kommen, Bäume bewegen sich. Das Motiv ist schon da.«

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Foto: Detlef Schweiger gibt seit 120 Jahren Raum zum Arbeiten und Leben.

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