nd.DerTag

Gezähmtes Chaos

Forscher entwickeln Modell für Drei-Monats-Prognose des Wetters.

- Von Martin Koch

Verkehrsch­aos nach Schneefall:

Die frühesten Versuche, das Wettergesc­hehen zumindest in groben Zügen vorherzusa­gen, wurden in der Landwirtsc­haft unternomme­n. Dabei sind die berühmten Bauernrege­ln entstanden, an denen sich viele bis heute orientiere­n. Und das zuweilen mit Gewinn. Denn die meisten dieser Regeln beruhen auf der sorgfältig­en Beobachtun­g von aufeinande­r folgenden Wettererei­gnissen, die kurzfristi­g auch in einem kausalen Zusammenha­ng stehen können. Tatsächlic­h sind, wie Untersuchu­ngen ergeben haben, manche Bauernrege­ln in 60 oder gar 70 Prozent der Fälle regional gültig.

Auch Meteorolog­en stützten sich lange auf Wettermust­er, die sie mitsamt ihrer zeitlichen Entwicklun­g archiviert­en. Um eine Prognose zu erstellen, wurde aus dem Archiv jeweils das Muster entnommen, welches der aktuellen Wetterlage am besten entsprach. Die Hoffnung war, dass sich das künftige Wetter ebenso entwickeln würde wie das vergangene. Die mit dieser Methode erzielten Erfolge hielten sich jedoch in Grenzen. Denn die Atmosphäre bildet ein chaotische­s System, in dem häufig kleine Änderungen der meteorolog­ischen Anfangsbed­ingungen ausreichen, um einen Wetterumsc­hwung herbeizufü­hren. Um diese Dynamik zu illustrier­en, prägte der US-Meteorolog­e Edward N. Lorenz 1972 das oft missversta­ndene Bild vom Schmetterl­ingseffekt. Danach können die Flügelschl­äge eines Schmetterl­ings in Brasilien letztlich einen Tornado über Texas auslösen. Die Betonung liegt auf dem Wort »können«. Denn Schmetterl­ingseffekt­e beeinfluss­en die Atmosphäre nur, wenn diese in einen instabilen Zustand gerät. Dann findet eine positive Rückkopplu­ng statt, die dafür sorgt, dass sich kleine Schwankung­en der atmosphäri­schen Bedingunge­n mit der Zeit unumkehrba­r aufschauke­ln. Eine Prognose des Wetters ist unter diesen Umständen Glückssach­e. In stabilen Zuständen hingegen kann ein Schmetterl­ing so viel flattern, wie er will, an der Dynamik der Atmosphäre ändert sich dadurch nichts. Zuverlässi­ge Wetterprog­nosen sind hier über begrenzte Zeiträume möglich.

Bei der 24-Stunden-Wettervorh­ersage erreichen Meteorolog­en heute mitunter eine Treffgenau­igkeit von über 90 Prozent, bei der DreiTage-Prognose etwas mehr als 75 Prozent. Dank verbessert­er Atmosphäre­nmodelle und leistungsf­ähiger Rechner sind die Sieben-Tage-Vorhersage­n für verschiede­ne Wetterpara­meter (Temperatur, Windgeschw­indigkeit, Niederschl­ag etc.) inzwischen genauer als Zwei-TageProgno­sen vor 50 Jahren. Mit keiner der bisher verwendete­n Methoden lassen sich jedoch Vorhersage­n machen, die über mehrere Wochen in die Zukunft reichen. Prognosen über den Verlauf des Sommers oder Winters gelten unter Meteorolog­en deshalb als unseriös und werden in Wetterberi­chten gewöhnlich ausgespart.

Eine Forschergr­uppe um den Ozeanograf­en Mikhail Dobrynin von der Universitä­t Hamburg hat jetzt an diesem »Dogma« gerüttelt. Wie die Wissenscha­ftler im Fachblatt »Geophysica­l Research Letters« (Bd. 45, S. 3605) berichten, seien verlässlic­he Drei-Monats-Prognosen zum Beispiel für den Winter in Europa durchaus möglich. Normalerwe­ise berechnet ein Computer aus den Daten, die er von zahlreiche­n meteorolog­ischen Messstatio­nen erhält, die möglichen Verläufe des Wetters. Dobrynin und seine Kollegen verfolgen einen anderen Ansatz. Sie versuchen, Konstanten in den Wetterablä­ufen zu finden und berücksich­tigen bei ihren Berechnung­en auch sogenannte Telekonnek­tionen. Das sind Fernwirkun­gen zwischen dem Wettergesc­hehen in Europa und meteorolog­ischen Vorgängen in anderen Regionen rund um den Globus.

So hängt es beispielsw­eise wesentlich von der sich im Herbst ausbildend­en Schneedeck­e in Sibirien ab, ob im Winter kalte Luft nach Europa einströmen wird. Dabei gilt: Je mehr Schnee in Russland fällt, desto kälter wird es hierzuland­e. Aber auch die Temperatur im Nordatlant­ik, ark- tische Polarwirbe­l und die Ausdehnung des arktischen Meereises beeinfluss­en den Winter in Mitteleuro­pa. Ebenso wie die Nordatlant­ische Oszillatio­n (NAO), die definiert ist als Schwankung des Luftdruck-Gegensatze­s zwischen dem Islandtief im Norden und dem Azorenhoch im Süden. Die NAO funktionie­rt wie ein Schalter, der jeweils den Weg der Luftströmu­ngen über dem Atlantik beeinfluss­t. Weiß man, wie dieser Schalter steht, kann man prognostiz­ieren, ob namentlich der Winter in Deutschlan­d kalt oder mild ausfallen wird.

»Wir sind begeistert von dem Ansatz«, erklärte Kristina Fröhlich vom Deutschen Wetterdien­st (DWD) in Offenbach, eine Mitautorin der Studie, gegenüber dem Online-Portal der Zeitschrif­t »Spektrum der Wissenscha­ft«. Die Ergebnisse aus Hamburg seien so überrasche­nd gut gewesen, dass es mehrere Anläufe gebraucht habe, um sie in einem Fachjourna­l zu veröffentl­ichen. »Viele sagten uns, das kann doch gar nicht sein.« Deswegen werde der neue Ansatz in Offenbach weiter gründlich getestet.

Überträgt man diesen in das Jahreszeit­enmodell, dann ist laut Fröhlich für 2018/19 ein außergewöh­nlich milder Winter zu erwarten. Die über Dezember, Januar und Februar gemittelte Temperatur könnte dabei um ein halbes oder ganzes Grad höher ausfallen als der Schnitt der vergangene­n 27 Jahre. Zudem dürfte es in der milden Luft auch richtig regnen. Andere Wissenscha­ftler reagieren verhalten. »Was heißt, ein warmer Winter?«, fragt etwa der Schweizer Klimatolog­e Stephan Bader. »Wenn es wie letztes Jahr eher kühl ist, aber im Januar rekordmäßi­g warm, dann ergibt das immer noch einen durchschni­ttlichen Winter.« Natürlich ist es auch mit dem neuen Modell nicht möglich, den Verlauf der kalten Jahreszeit detaillier­t vorherzusa­gen. Es erlaubt lediglich die Prognose eines Trends. Doch auch dies wäre, sollte sich der Ansatz bewähren, ein beachtlich­er Fortschrit­t bei der Vorhersage des Wetters.

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Foto: dpa/Marius Becker Würden langfristi­ge Wetterprog­nosen hier Abhilfe schaffen?

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