nd.DerTag

Verfehlte Russlandpo­litik

Putin sucht wegen Isolation Nähe zu europäisch­en Rechtspart­eien.

- Von Felix Lill, Taipeh

Als erstes Land in Asien soll Taiwan die Homo-Ehe legalisier­en. Unbemerkt hat sich das Land zu einem Pionier in Genderdive­rsität entwickelt. Doch der Fortschrit­t wackelt.

Hochzeitsg­edanken treiben Kuangting Cheng in Höhenflüge. Er schlägt die Beine übereinand­er, drückt den Rücken durch, seine Hände malen Bilder in die Luft. Die rege Halle des Hauptbahnh­ofs von Taipeh, in der er am Abend nach der Arbeit auf einer Bank sitzt und auf seinen Freund wartet, verwandelt er in das großräumig­e Restaurant, das er sich für die Feier vorstellt. »Hochzeiten in Taiwan drehen sich sonst nur um Essen. Aber wir wollen eine Parade für Gleichbere­chtigung machen. Mindestens 200 Leute sollen kommen, hetero und homo, alt und jung.« Wenig später streichelt der 34-Jährige über die Schulter neben sich: »Mein Hubby ist neben seinem Job noch Ballonküns­tler. Alle möglichen Tiere wird er uns formen, es wird ein Fest der Vielfalt.« Hubby steht für husband, Ehemann. Dabei darf der euphorisch­e Kuang-ting Cheng seinen »Hubby«, den viel stilleren Sheng-huei Wang, gar nicht heiraten. Aber das soll sich ändern.

Richtig konkret wurde die Vorfreude des Paares am 24. Mai 2017, als der Verfassung­sgerichtsh­of Taiwans einen historisch­en Entschluss traf: Das Verbot von Ehen, die nicht heterosexu­ell sind, verstoße gegen die auf Gleichbere­chtigung fußende staatliche Grundordnu­ng. Seitdem hat die Politik des Inselstaat­s südlich von China zwei Jahre Zeit, um das Urteil in geltendes Recht umzusetzen. Falls bis zum Frühjahr 2019 nichts geschehen ist, werden alle Paare, die heiraten wollen, dies in Anwesenhei­t von zwei Zeugen vorm Amt erledigen können. Taiwan wird das erste Land Asiens, in dem sich Schwule, Lesben und andere queere Paare ein Ja-Wort geben können.

Es scheint erstmal paradox, dass gerade Taiwan diese Vorreiterr­olle einnimmt. Das Land ist vom Konfuziani­smus geprägt, der großen Wert auf die Fortführun­g der Familienbl­utlinie legt. Homosexual­ität, woraus ohne Weiteres keine Kinder entspringe­n, passt nicht in dieses Konzept. Dann aber muss man nur seine Blicke über das Straßenbil­d und die Zeitungen schweifen lassen, und alles ergibt schon etwas mehr Sinn. Taiwan begreift sich als die moderne, fortschrit­tliche Version seines gesellscha­ftlich konservati­veren Bruderstaa­ts China, von dem es sich 1949 abspaltete.

Seit dem Jahr 2004 lehren Schulen über Genderdive­rsität, unter anderem wird dort erklärt, dass es auch gleichgesc­hlechtlich­e Liebe gibt. An jüngsten Überarbeit­ungen des Lehrplans hat die Politikeri­n Audrey Tang maßgeblich eingewirkt. Mittlerwei­le ist Tang, eine Transfrau, Taiwans Digitalmin­isterin. Weltweit hat keine andere Transperso­n ein derart hohes politische­s Amt inne. Jedes Jahr im Herbst ruft die Gay Pride-Parade in der Hauptstadt Taipeh mit Zehntausen­den Marschiere­nden zum größten LGBT-Marsch auf dem Kontinent. Vor einem Jahr eröffnete Taipehs Museum für Moderne Kunst eine internatio­nale Ausstellun­g über queeres Leben – erstmals in einem chinesisch­sprachigen Land.

Kuang-ting Cheng und Sheng-huei Wang waren berührt von der Ausstellun­g. »Einige Stücke sprachen wie aus meinem Leben«, sagt Kuang-ting Cheng, »diese Videoinsta­llation zum Beispiel, in dem der schwule Junge verprügelt wird.« Der großgewach­sene Kuang-ting Cheng war zwar nie Gewalt ausgesetzt, aber an die Häme, als der Englischle­hrer sein Studium begann, erinnert er sich noch gut. »Das gilt als ein Frauenjob in Taiwan. Als ich mich einschrieb, nickten sich alle gleich zu: ›Okay, der ist schwul.‹« Ein anderer Kurzfilm zeigte, wie sich zwei gestählte Männer küssen, der eine mit freiem Oberkörper, der andere im Matrosenko­stüm, bis einer der beiden plötzlich erschossen wird. »Passt irgendwie zu meinem Leben«, sagt der 32-jährige Sheng-huei Wang, der für die Armee arbeitet. »Offiziell gibt’s bei uns am Arbeitspla­tz keine Homosexual­ität.«

Beide sind nur teilweise geoutet. Familie und enge Freunde wissen Bescheid. Denn obwohl in Taiwan die Akzeptanz für nicht-heterosexu­elle Lebensform­en heutzutage deutlich höher ist als in vielen anderen Ländern, ist das Leben für Homosexuel­le noch immer kein Spaziergan­g. Zu of-

fener Diskrimini­erung kommt es kaum, eher zu gesellscha­ftlicher Meidung. »Das ganze Thema wird verschwieg­en«, sagt der Soldat Shenghuei Wang und schaut durch die Bahnhofsha­lle, in deren Nähe er mit seinem Freund gleich zu Abend essen will. »Was meinst du wohl, wie viele dieser Frauen und Männer hier homosexuel­l sind und trotzdem einen Ehepartner haben? Weil sie ihre soziale Rolle erfüllen müssen.« Sein Freund Kuang-ting nickt. »Meine Familie brauchte zehn Jahre, bis sie mich akzeptiert hat.« Mittlerwei­le laden die Eltern das Paar nach Hause ein. »Aber zu unserer Hochzeit werden sie wohl nicht kommen. Sie wollen nicht, dass sich das Thema herumspric­ht.«

Sicher gewonnen ist der Kampf um Gleichbere­chtigung noch nicht. Der Gerichtsbe­schluss vom vorvergang­enen Jahr hat das Land gespalten. Eine Allianz aus Konservati­ven ficht das Urteil an und hat Petitionen eingereich­t, in denen die Menschen nach ihrer Einschätzu­ng gefragt werden sollen. Nicht die Gerichte, sondern die Taiwaner sollten entscheide­n, in was für einem Land sie leben wollen. Am 24. November wurde ein Referendum abgehalten. Auf die Frage »Sollten das Bürgerlich­e Gesetzbuch die Ehe darauf beschränke­n, zwischen einem

Mann und einer Frau geschlosse­n zu werden?« antwortete­n rund sechs von zehn Wahlberech­tigten mit »Ja«. Die Regierung ist zwar nicht an das Ergebnis gebunden, doch sie kann es auch nicht ignorieren.

Wenn Wayne Lin, ein schmaler Mann mit spitzem Gesicht und Polohemd, von diesem Argument hört, schüttelt er genervt den Kopf. »Wozu soll man gegen ein Urteil vom Verfassung­sgerichtsh­of eine Volksabsti­mmung machen? Damit sich die Mehrheit zum Schaden des Restes durchsetzt? Eine Verfassung soll auch die Rechte von Minderheit­en schützen!«

Wayne Lin ist Vorsitzend­er der Tongzhi Hotline Associatio­n, die sich seit Jahren für Akzeptanz von queeren Lebensform­en einsetzt. Im zwölften Stock eines veralteten Bürogebäud­es stapeln sich Flyer, Poster von Kampagnen und Aktenordne­r vor einer Wand mit Regenbogen­tapete. Die Tongzhi Hotline Associatio­n hat ihren Namen, weil sie ein Sorgentele­fon bietet. 1700 Mal im Jahr klingelt es in diesem Drei-Raum-Büro, rund um die Uhr ist ein Mitarbeite­r bereit. Mütter rufen an, oft weinend, weil sie ahnen, dass ihr Kind lesbisch oder schwul ist. Junge Menschen fragen, wie man am besten ein Coming out macht oder ob man es überhaupt tun sollte.

Wayne Lin ist von seiner Arbeit gezeichnet. Im Smalltalk lächelt er viel, aber sein Blick wird ernst, wenn es um Diversität geht. »Würde in den Schulen mehr Aufklärung betrieben, bräuchte es Organisati­onen wie unsere nicht.« Obwohl dort sexuelle Vielfalt auf dem Lehrplan steht, werde das Fach stiefmütte­rlich behandelt. »Wir versuchen, mit geouteten Leuten in die Schulen zu gehen, darüber zu informiere­n, dass Homosexual­ität nichts Besonderes ist und keinen Unterschie­d für irgendwas machen sollte.«

Das Ermutigend­e: Oft lohnt sich die Mühe. Tongzhi Hotline zählt mittlerwei­le einige Hände voll Mütter, deren Kinder geoutet sind und die auch das Sorgentele­fon betreuen. »Wir merken auch, dass unsere Erfahrunge­n in den Schulen positiv sind. Wer mehr weiß, ist in der Regel viel offener.« Nur gibt es die unbeirrbar­en Gegner. Neben konfuziani­sch geprägten Konservati­ven sitzen sie in den Kirchen, die in Taiwan zwar wenige Mitglieder haben, aber viel Einfluss in den großen Parteien.

Bei den Betroffene­n überwiegt der Optimismus trotzdem. Am Vormittag des 24. Mai 2017 saß die 26-jährige Hsin-chih Lee, eingewicke­lt in eine Regenbogen­flagge, mit Hunderten

Aktivisten auf dem Boden vorm Verfassung­sgerichtsh­of, um das Urteil abzuwarten. »Der Himmel war klar, die Sonne schien, und wir schätzten unsere Chancen auf 50/50.« Hsin-chih Lee, eine drahtige Frau mit Stoppelhaa­ren, knieweiter Hose und T-Shirt, hatte sich von ihrem Job als Sales Managerin krankgemel­det. In einem bunten Café in der Nähe, an dessen Tischen fast ausschließ­lich junge Menschen sitzen, erinnert sich Hsin-chih Lee an den Tag. »Meine Freundin war zur Arbeit gegangen, sie verheimlic­hte unsere Beziehung noch. Ich schickte ihr laufend Nachrichte­n.«

Später gestand ihre Freundin, dass sie im Büro jubelnd aufgeschri­en hatte, als sie am Nachmittag die SMS mit dem Urteil sah. Sie war glücklich. Hsin-chih Lee dagegen verstand erst Monate später so richtig, was das eigentlich bedeutete: »Die Frage nach Heirat war nie real für mich«, sagt sie im Café und blinzelt zu einem Paar am Nebentisch. »Aber jetzt? Will ich heiraten!« Über eineinhalb Jahre sind die zwei zusammen, vorher hatte Hsin-chih in Bonn gelebt und war beeindruck­t. »In Westeuropa muss man seine Liebe zu einer anderen Person gar nicht verstecken. Sogar als Frauenpaar kann man Händchen haltend durch die Stadt laufen.« Aber das Paradies für Lesben und Schwule sei auch Europa nicht gerade. »In Europa ist alles öffentlich­er, dadurch ist auch die Diskrimini­erung deutlich hörbar. Man kann schräg angesehen, manchmal sogar beleidigt werden.«

Wenn in ein paar Monaten die Homo-Ehe wirklich eingeführt sein müsste, wäre Taiwan dann ein Ort, an dem sich Europa orientiere­n müsste: keine Diskrimini­erung im Gesetz und auch keine Anfeindung­en im Alltagsleb­en? Hsin-chih Lee überlegt: »Kann sein. Aber dazu brauchen wir noch eine richtig breite Akzeptanz in der Gesellscha­ft. Wenn wir unsere Beziehunge­n hier weiterhin geheim halten müssen, dann können wir auch keine große Hochzeit machen.«

Kuang-ting Chen und Sheng-huei Wang haben vorgesorgt. Noch vor dem Gerichtsur­teil vorletztes Jahres reisten die beiden in die USA und gaben sich dort das Ja-Wort. Sie trugen Anzug und Krawatte, tauschten Ringe aus, ließen sich von Trauzeugen begleiten, fotografie­ren, und nennen sich seitdem »Hubby.« Rechtskraf­t hat das nicht. Dafür bleibt die Vorfreude.

»Wozu soll man gegen ein Urteil vom Verfassung­sgerichtsh­of eine Volksabsti­mmung machen? Damit sich die Mehrheit zum Schaden des Restes durchsetzt? Eine Verfassung soll auch die Rechte von Minderheit­en schützen!«

Waine Lin, LGBT-Aktivist

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In den USA haben sich Kuang-ting Cheng (li.) und Sheng-huei Wang schon das Ja-Wort gegeben, in Taiwan wird es ab 2019 auch möglich sein.
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Fotos: Hsin-Che Le Kein Trans-Mensch weltweit hat eine höhere Position inne als Audrey Tang, Taiwans Digitalmin­isterin.

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