Liebe dich selbst, nicht Gott!
Gott dienen? Krieg führen? Sowohl in der Bibel als auch im Koran findet sich keine Eindeutigkeit
Sich ein Buch vorzunehmen, das sich »in idealtypischem Rahmen« mit den »innerreligiösen Grundlagen« des Christentums und des Islams, also mit der Bibel und dem Koran befassen will, mag den Lesern merkwürdig erscheinen. Interessieren uns doch eher historisch-kritische Auseinandersetzungen mit diesen Schriften oder ihren Auslegungen. Führt man sich aber vor Augen, in welchen ideologischen Formen die Konflikte zwischen dem Westen mit seinem christlichen Hintergrund und den Menschen mit islamischem Hintergrund ausgetragen werden, fällt auf, dass dabei eher vermeintliche »Essenzen« sowohl der eigenen wie auch der fremden Religion ins Spiel gebracht werden – sei es, dass sie für »unvereinbar«, sei es, dass sie für »vereinbar« erklärt werden – je nach politischer Zielstellung. Ich erinnere mich sowohl an einen protestantischen Pfarrer als auch an einen sich als »links« ausgebenden kirchlichen Arbeitskreis, die nach dem 11. September empört die angeblich kriegslüsternen Suren des Koran zitierten, aber nichts davon hören wollten, dass auch westliche Heere unter dem Zeichen des Kreuzes in die Schlacht gezogen sind und auch heute noch in Begleitung von Priestern Kriege führen. Ich bin aber auch Sozialarbeitern begegnet, die – ungeachtet des unleugbaren islamistischen Terrorismus – die Toleranzgebote des Korans gegenüber Andersgläubigen für geschichtsmächtiger erklärten als das Liebesgebot der christlichen Kirchen. Weil offenbar solche isoliert aus den heiligen Schriften herausgegriffene »Essenzen« eben doch eine wichtige Rolle im »Clash of Civilizations« spielen, ergibt es Sinn, sich mit ihnen auseinanderzusetzen.
Das leistet Holger Wohlfahrt im Rahmen eines sehr systematischen Vorgehens. Zunächst klärt er über den unterschiedlichen Status der kanonisierten Texte von Bibel und Koran auf, um dann die historischen Wege der Hermeneutik nachzuzeichnen, die die Interpretationen der heiligen Schriften nahmen. Während die Texte der Bibel von vornherein als Auslegungen der Offenbarung angesehen wurden, galt und gilt der Koran als direkter Ausdruck der Offenbarung. Mehr noch: Er soll als Buch im Jenseits schon immer existiert haben und Juden und Christen offenbart worden sein, die ihn aber unvollkommen oder fälschlich ausgelegt und übermittelt hätten. Während zumindest für Christen klar sein dürfte, dass die Bibeltexte allein auf Grund ihrer verschiedenen historischen und aktuellen Übersetzungen keine Authentizität als Gottesworte beanspruchen, ist der Mehrzahl der Muslime nicht bewusst, dass die meisten heute im Umlauf befindlichen Korane eine 1923 von der Kairoer Azhar-Universität erstellte Version wiedergeben. Ältere Manuskripte weisen durchaus Varianten auf und lassen auch wegen fehlender Vokalzeichen oder grammatischer Unstimmigkeiten verschiedene Interpretationen zu.
Allein daraus, aber mehr noch aus der Geschichte der religiösen und historisch-kritischen Hermeneutik lässt sich ableiten, dass die Postulierung von »Essenzen« ins Leere läuft. Welch radikalen Umschwung die christliche Theologie nahm, als sich die Kirche von einer Organisation der Verfolgten zur Staatskirche wandelte, lässt sich an der anhaltenden Bedeutung des Augustinus ermessen. Dessen für ein hierarchisches Staatswesen unabdingbare Prädestinationslehre wurde selbst von Luther nicht aufgegeben, erodierte aber in der weiteren Entwicklung des Protestantismus. Dass auch der Islam schon mit der Spaltung in Schiiten und Sunniten bald kein einheitliches System von »Essenzen« mehr sein konnte, liegt auf der Hand. Wohlfahrt zeichnet nicht nur die Phasen der Aufklärung in der christlichen, sondern auch in der islamischen Theologie nach. Während ein Teil der orthodoxen Muslime bis heute behauptet, im Koran sei bereits alles später von der Menschheit erworbene Wissen angelegt, begründete die im 8. Jahrhundert entstandene Schule der Mu’tazila eine Tradition, die neu errungenes Wissen als solches anerkannte und es in die islamische Weltsicht zu integrieren suchte.
Trotz alledem werden sowohl vom Westen als auch von Muslimen immer wieder ideologische Kämpfe anhand von »Essenzen« angezettelt. Laut Wohlfahrt betrifft das vor allem das »Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft«, die »politischen Ordnungsformen« und die »Interaktion mit anderen Glaubensformen«. Das oberste Gebot für den Christen ist ein doppeltes: Liebe zu Gott und zu den Mitmenschen. Für den Muslim dage- gen ist die Gottesdienerschaft prioritär. Wohlfahrt schließt, dass beide oberste Gebote letztlich die Selbstliebe einschränken wollen, um ein friedliches Gemeinschaftsleben zu ermöglichen. Allerdings hält das Christentum den Einzelnen für unfähig, das geforderte Doppelgebot vollends zu erfüllen, während der Koran davon ausgeht, dass der Mensch durchaus in der Lage ist, ein gottgefälliges Leben zu führen. Hieraus können Konflikte in und zwischen den Religionskulturen entstehen. Gegensätzliche »Essenzen« lassen sich aber nicht ableiten, denn das Übertreten vermeintlicher göttlicher Gebote konnte bis in jüngste Zeit auch unter Christen schwerste Ahndung nach sich ziehen. Dennoch hat sich hier historisch eine leichtere Vereinbarkeit von kirchlichem Leben und eigenständigem weltlichen Rechtssystem herausgebildet, während dem Islam eher eine Überein- stimmung von religiösem und staatlichem Rechtswesen zu entsprechen scheint. Realhistorisch – das betont Wohlfahrt – hat es diese Übereinstimmung auch in islamischen Gesellschaften so gut wie nie gegeben.
Weder in der Bibel noch im Koran werden eindeutige ordnungspolitische Rahmen skizziert. Die Bibel ist darin sogar widersprüchlich. In den Evangelien erscheint weltliche Herrschaft als »notwendiges Übel«, bei Paulus bereits als jeweils »gottgewollte Einrichtung«, während in der Johannesoffenbarung »jegliche Form von weltlicher Herrschaft diskreditiert wird«. In der Realität lassen sich alle drei Haltungen biblisch rechtfertigen. Der Koran, der im Unterschied zur im römischen Reich entstandenen Bibel in keinem festgefügten staatlichen Rahmen entstand, strebt einen solchen erst an. Ein Widerstandsrecht gesteht er nur zu, wenn eine Mehrheit der Gläubigen meint, dass das Staatsoberhaupt göttliche Gebote missachtet.
Wenn die Gläubigen das oft auch nicht sehen wollten, gehen Neues Testament und Koran davon aus, ein und derselben religiösen Wurzel zu entspringen – der Tora. Jesus sah sich zunächst nur als Reformer des Judentums. Erst als Nichtjuden ihn um Hilfe baten und so zeigten, dass sie an ihn glaubten, verstand er seine Mission als universell. Mohammed hatte zunächst versucht, die monotheistischen Vorgängerreligionen zusammenzuführen. Als das nicht gelang, brach er mit deren Ritualen. Aber der Koran verstand sich weiterhin als Bestätigung und Berichtigung der bereits vorhandenen heiligen Schriften und gestand deren Anhängern – im Unterschied zu den Polytheisten – ein Existenzrecht innerhalb islamischer Gesellschaft zu. Da Christen und Juden zur Zahlung von Steuern verpflichtet wurden, kam der Missionierung weniger Bedeutung zu als im Christentum. Wohlfahrt meint, dass die Missionierung hier weniger von den Kirchen selbst als von einzelnen Individuen ausging – wobei er nicht herausarbeitet, inwieweit diese im weltlichen Auftrag handelten.
Während im alten Testament von einem Friedensgebot keine Rede sein kann, wird ein solches hinsichtlich des Neuen Testaments oft hervorgehoben. Da die Offenbarung des Johannes jedoch oft als Berechtigung zum Krieg herhielt, kann es sich auch hier um keine »Essenz« handeln. Eindeutiger verallgemeinerbar scheinen die Aufrufe zum Krieg gegen Ungläubige im Koran zu sein, zumal sie nicht – wie die Inhalte anderer Suren – durch spätere Suren ungültig gemacht wurden. Wohlfahrt führt aus, dass sie in historisch-kritischer Lesart aber doch bestimmten konkreten Konfliktsituationen zuzuordnen sind und daher letztlich auch nicht als »Essenz« betrachtet werden müssen.
Das Fazit des aufwendigen Unternehmens fällt nicht überraschend aus: Sowohl die Bibel als auch der Koran weisen zu allen behandelten Problemen eklatante Widersprüche auf: Genau darin besteht die »Vereinbarkeit« des vermeintlich »Unvereinbaren«. Deshalb ist es ratsam, in der Auseinandersetzung zwischen dem sogenannten Westen und den Muslimen auf der Ebene realer Interessen zu argumentieren. Da es aber in der Natur aller Konflikte liegt, dass sie ideologisiert und mit angeblichen Gegensätzen von »Essenzen« geführt werden, ist es von Nutzen, sich auch mit ihrer Konstruktion und Dekonstruktion auszukennen. Dabei ist zu beachten, dass ein »Clash« auch innerhalb der jeweiligen religiösen Resonanzräume stattfindet. Am Rande einer Tagung algerischer Frauenverbände Anfang der 80er Jahre hörte ich eine Frau sagen: »Obwohl wir Atheistinnen sind, müssen wir uns jetzt ernsthaft mit dem Koran beschäftigen. Um den Islamisten beizukommen, müssen wir ihn besser kennen als sie.«
Die Bibel und der Koran weisen eklatante Widersprüche auf.
Holger Wohlfahrt: Die Vereinbarkeit des Unvereinbaren. Christliche Bibel und Koran: Vergleich der politischen Inhalte und ihrer Deutungen, Königshausen & Neumann, 504 S., geb., 48 €.